Die Visionen von Tarot
sammelten sich unter Tränen um Jesus herum. Einige trauerten höchst wortreich. Zu Bruder Pauls Zeiten hatte der Ausdruck ‚klagen’ einen negativen Beigeschmack, doch hier klang die Klage echt: die leidenschaftliche Äußerung äußerster Bestürzung, die Mark und Bein erschütterte, und an deren Aufrichtigkeit nicht zu zweifeln war. Abendländer konnten Gefühle nicht so offen zeigen, und vielleicht war dies ein Mangel.
Jesus richtete sich auf und ergriff zum ersten Mal, seit Bruder Paul zu der Gruppe gestoßen war, das Wort. „Oh Töchter Jerusalems, weint nicht um mich. Weint um euch und eure Kinder!“
Überrascht verstummten sie. Jesus redete weiter zu ihnen, doch Bruder Paul, der mithören wollte, wurde durch eine grobe Hand auf der Schulter gestört. Erstaunt drehte er sich um. Dort stand ein römischer Söldner mit seinem eindrucksvollen Helm, Panzerhemd und gegürtetem Kurzschwert.
„Statthalter Pilatus will mit dir sprechen“, sagte der Soldat kurzab.
Oh nein! Das war das letzte, was Bruder Paul wollte, sich in die Geschichte hineinziehen lassen! Natürlich hatte er keinen Einfluß auf die wirkliche Geschichte, aber wenn seine Anwesenheit die Animation verzerrte, würde er die Wahrheit nicht finden können. War die Realität des Heiligen Geistes etwas prinzipiell Unerkennbares?
Nein! Es war besser zu glauben, bei der Kreuzigung sei ein Mensch wie er dabei gewesen, der mit Pontius Pilatus gesprochen hatte. Bruder Paul steckte lediglich als Gast in dessen Körper, wie bei dem Transfer, von dem der außerirdische Besucher Antares gesprochen hatte. Er mußte sich einfach darauf einlassen und mitspielen. Solange er nicht bewußt aus der Rolle fiel, würde alles in Ordnung sein.
Pilatus wirkte eindrucksvoll in der offiziellen römischen Tunika und dem bestickten Mantel und saß auf einem prächtigen Hengst. Hinter ihm flatterte die römische Fahne unruhig in dem aufkommenden Wind. Fast schien der riesige Adler zu fliegen. Oh, die Insignien der Macht waren schon beeindruckend!
Der Statthalter starrte hinab auf Bruder Paul. „Du scheinst an diesem Vorgang ein ungewöhnliches Interesse zu hegen, und du stammst nicht aus Jerusalem. Gehörst du zu den Anhängern dieses Mannes?“
Bruder Paul stand wie erstarrt. War er wie Simon einer, der seinen Glauben verleugnete? Aber er war kein Anhänger in dem von Pilatus gemeinten Sinne, keiner der Zwölf. „Ich bin kein Jünger“, sagte Bruder Paul vorsichtig. „Aber ich glaube an die Göttlichkeit von Jesus Christus.“ Aber war das nicht auch schon eine Lüge? Er war hier, um die Aura in Jesus zu verifizieren, sicherzustellen, ob es eine künstliche, durch Maschinen herbeigerufene Sache war oder der lebendige, heilige Geist Gottes. Wie konnte er zu glauben vorgeben, wenn seine Objektivität von ihm verlangte, daß er vorsichtig mit seinem Urteil umging? „Zumindest glaube ich, daß er der …“
„Der König der Juden ist?“ fragte Pilatus. Plötzlich erkannte ihn Bruder Paul: Therion! Auch die römischen Soldaten waren Therion gewesen, aber diese Rolle paßte besser.
„Vielleicht“, stimmte Paul mit gepreßter Stimme zu. Der Legionär neben ihm verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. (Konnte ein Schauspieler in ein und derselben Animation zwei Rollen spielen? Offensichtlich.)
„Bist du des Schreibens kundig?“ fragte Pilatus.
Da sich der verbale Teil dieser Animation in Bruder Pauls Muttersprache abspielte, schien die Annahme sicher, beim schriftlichen sei es ebenso. „Ja.“
„Ja, Herr“ bellte der Soldat. „Erweise dem Statthalter deinen Respekt!“
Bruder Paul rief sich in Erinnerung, daß er
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