Die Visionen von Tarot
seine Rolle weiterspielen mußte. „Ja, Herr!“ wiederholte er.
Pilatus nickte großzügig. „Ausgezeichnet. Ich habe eine Aufgabe für dich. Ich bin von der Schuld dieses Mannes Jesus nicht gänzlich überzeugt. Eigentlich finde ich wenig Verdammenswertes an ihm, außer einigen ungeduldigen Worten, die aber hauptsächlich von seinen Anklägern vorgebracht worden sind.“ Er blickte zur Seite und machte eine deutliche Geste des Ausspuckens. „Die Hohepriester des Tempels, die ihre Autorität durch jemanden untergraben sehen, der auch für die Armen von Anständigkeit und Errettung predigt. Pharisäer!“ Und nun spuckte er wirklich. „Ich habe gehört, dieser Mann Jesus hat sie einst wirklich aus ihrem Tempel vertrieben, hat ihre Tische umgestoßen und ihr Geld verstreut. Sehr gut!“ Dann kehrte sein Blick wieder zu Bruder Paul zurück. „Aber diese Juden wollen, daß er stirbt, und ich will keine weiteren Unruhen heraufbeschwören, wo die Gemüter bei diesem lokalen Fest, diesem Passah oder so ähnlich, ohnehin aufgerührt sind. Hat mit irgendeiner Mythologie aus Ägypten zu tun, wie ich gehört habe, wenn ich auch gern die ägyptische Seite davon hören würde. Jedenfalls verlangt die Politik der Stunde von mir, einer Handlung zuzustimmen, die ich nicht begrüße, und daher wasche ich bezüglich dieser Entscheidung meine Hände in Unschuld. Aber damit die anderen zumindest erfahren, weshalb dieser Mann, ob nun rechtmäßig oder ungerechterweise, gekreuzigt wurde, habe ich vor, eine Inschrift oben am Kreuz anzubringen. Bitte schreibe diese Worte auf diese Tafel. Kannst du das tun?“
Bruder Paul hatte weder von Pilatus noch von Therion eine Bestätigung dieser Art erwartet, doch es klang echt. Nun stieß ihn der Soldat in die Rippen. „Das kann ich gern tun“, murmelte er. Dann, auf ein Zeichen des Legionärs hin, fügte er noch hinzu: „Herr.“
Pilatus blickte beiseite und entließ ihn hiermit. Bruder Paul begann, an der Inschrift zu arbeiten. Seiner Erinnerung nach war sie wohl aus Stein gewesen, doch hier stand ihm nur ein grobes Brett zur Verfügung. Nun, es würde reichen müssen. „Was soll ich darauf schreiben?“ fragte er.
Der Mann zuckte die Achseln. Wenn er dem Blick seines Herrn entronnen war, schien er ganz freundlich. „Was werfen sie ihm denn vor?“
„Daß er König der Juden sei“, sagte Bruder Paul halb scherzhaft.
„Dann schreib das.“ Fertig.
Bruder Paul nahm ein Stück Kalkstein und schrieb die sieben Worte so sauber und deutlich wie er nur konnte, DIES IST DER K ÖNIG DER JUDEN.
Als er fast damit fertig war, kam ein Tempelpriester vorbei. „Das stimmt doch nicht!“ protestierte er. „Er ist doch nicht wirklich der König der Juden. Du hättest schreiben sollen, er sagt, er sei der König der Juden.“
„Mach dich fort“, murmelte Bruder Paul.
Wütend ging der Priester weiter, um sich beim Statthalter zu beschweren. Nach einem Moment ertönte über das Gemurmel und Getöse der Kreuzaufrichtung hinweg Pilatus’ halbironische Antwort: „Was ich einmal geschrieben habe, bleibt stehen.“
Innerlich lächelte Bruder Paul. Pontius Pilatus hatte sich als Urheber der Tafel bezeichnet und damit alle weiteren Klagen verhindert.
Auch der Söldner lächelte kurz. „Geschieht dem Heuchler recht“, sagte er mit einem Seitenblick auf den verärgerten Priester. „Diese Bande würde ich gern allesamt am Kreuz sehen.“ Er las die Tafel. „Steht da wirklich Er konnte natürlich nicht lesen. Daher hatte Pilatus einen gebildeten Freiwilligen gebraucht. Andernfalls hätte er die Worte selber schreiben müssen, und das wäre unter seiner Würde gewesen, ebenso, wie er sich dadurch weiter in die Sache
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