Die Visionen von Tarot
offensichtlich aus Furcht vor dem Beben davongelaufen, doch es würde sie nicht auf ewig fernhalten.
Schließlich war das Loch tief genug. Er legte den Leichnam hinein, schaufelte die Erde darüber und trampelte sie gut fest. Aber das frische Grab würde im Tageslicht auffallen. Um es zu tarnen, mußte er einen Busch entwurzeln, direkt über das Grab pflanzen und dann die überschüssige Erde so verteilen, daß es keinen Grabhügel gab. Wenn jemand in der Grube, wo der Busch gestanden hatte, nachsah, würde er natürlich nichts finden. Würde dies reichen, den Leichnam zu verbergen? Die Zeit würde es ihm sagen!
Wieder gab es ein Geräusch. Dieses Mal kam wirklich jemand. Es war noch nicht Morgen, aber im Osten zeigte sich schon ein schwacher Schein. Bruder Paul eilte von der Grabstätte fort und stellte sich neben das leere Grab, wobei er versuchte, sich den verräterischen Schmutz von den Händen zu wischen.
Die Gestalt näherte sich dem Grab … und sah, daß es leer war. Man hörte einen leisen Schrei. „Maria Magdalena!“ rief Jesus Bruder Paul zu. „Sie hätte ich geheiratet, wenn …“ Man sah das geistige Bild eines Skalpells, die Klinge, die Jesu Aussichten auf ein normales Leben zerstörte hatte, lange bevor er sich solcher Dinge bewußt sein konnte.
Als die Sonne aufgegangen war, erschien Maria Magdalena zusammen mit zwei Jüngern erneut. Die Männer rannten auf das Grab zu. Sie fanden die Leichentücher, die Bruder Paul zurückgelassen hatte, und eilten dann aufgeregt zurück in die Stadt. Nur Maria blieb zurück und blieb abwartend vor dem Grab stehen. Sie begrub das Gesicht in den Händen.
„Zur Hölle mit der Geschichte“, meinte Bruder Paul. „Man muß sie trösten.“ Er ging zu ihr. „Frau, warum weinest du?“ fragte er.
Erstaunt blickte sie auf. Sie war eine hübsche junge Frau, und er wußte, wer die Rolle spielte. Sie erkannte ihn nicht. „Mein Herr, wenn Ihr ihn fortgenommen habt, dann sagt mir, wo er ist, und ich will …“
Nun redete Jesus mit Bruder Pauls Lippen. „Maria!“
Maria riß die Augen auf. „Mein Meister!“ rief sie und trat auf ihn zu.
„Komm mir nicht zu nahe“, sagte Jesus und trat zurück. „Denn ich bin noch nicht zu meinem Vater aufgestiegen. Geh zu meinen Brüdern und erzähle ihnen, ich ginge zu meinem Vater und deinem Vater, meinem Gott und eurem Gott.“
Dumpf nickte sie. Liebe und Hoffnung ließen ihre Augen glänzen. Dann wandte sie sich um und lief auf die Stadt zu.
„Aber ist das historisch?“ fragte Bruder Paul, als sie wieder allein waren.
„Habe Vertrauen“, antwortete Jesus. „Genau wie beim Senfsamen.“
Im Verlauf der nächsten Tage erschien Jesus mehreren Leuten. Dann zogen sie in Jesu Heimat nach Galiläa und er erschien wiederum vielen. Schließlich kehrte Jesus nach Jerusalem zurück. „Hier müssen wir uns schließlich trennen“, sagte er zu Bruder Paul. „Es ist an der Zeit, daß ich an Pfingsten meinen Jüngern den Geist übertrage, damit sie mein Werk auf der Erde fortsetzen.“
Aber als dies geschehen war, blieb ein kleiner Teil der Aura übrig. „Das verstehe ich nicht“, sagte Jesus. „Ich hatte gedacht, schließlich würde ich davon befreit.“
Plötzlich schoß es Bruder Paul in den Sinn. „Der heilige Paulus!“
„Willst du ein Heiliger werden, Freund?“
„Nicht ich! Paulus von Tarsus, der Pharisäer. Du kennst ihn vielleicht als Saulus.“
„Ich kenne keinen Saulus von Tarsus, und ich bezweifle, daß ich den Rest des Geistes einem Pharisäer geben werde.“
„Glaube mir“, erwiderte Bruder Paul. „Wir müssen nach Damaskus.“
„Freund, ich fürchte um deinen Verstand“, sagte Jesus. „Aber ich sehe an deinen Gedanken, daß es sein muß. Ich werde diesen Pharisäer von Tarsus kennenlernen.“
IX
Wechsel Trumpf
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