Die Visionen von Tarot
Gefäß aufzufangen. „Man darf das heilige Blut nicht auf den Boden fließen lassen!“
„Wer zum Teufel bist du denn?“ fragte Longinus, der sich das Gesicht abwischte und mit den Augen zwinkerte.
„Ich bin Joseph … ein interessierter Privatmann. Ich habe dort drüben in einem Felsen … eine Grabstätte. Wenn ihr mich den Leichnam dort bestatten laßt …“
Longinus dachte nach. „Oh, schon gut. Hier, ich helfe dir, ihn herabzubekommen.“ Wieder zwinkerte er. „Der Tag wird sicher noch schön. Ich habe schon lange nicht mehr alles so deutlich sehen können.“
„Laßt uns von diesem üblen Ort fortgehen“, sagte Jesus. Bruder Paul gehorchte nur zu gerne.
Unter Jesu Führung ging Bruder Paul zum gegenwärtigen Aufenthaltsort von Maria Magdalena. „Ich bin ein Freund von Jesus“, sagte er zu der betrübten Frau. „Ich bin spät gekommen und habe keine Bleibe.“
Sie zögerte und betrachtete ihn eindringlich. Sie war bei der Kreuzigung dabeigewesen; nun erkannte er sie. Aber sie hatte nur Augen für Jesus gehabt. Dann machte sie ohne ein Wort eine einladende Handbewegung und wies ihn in den überfüllten Raum. Marias Freundin, ebenfalls mit Namen Maria, und einige Jünger waren da, aber Jesus gab sich nicht zu erkennen. „Ich leide durch ihr Leid“, sagte er zu Bruder Paul, „aber es ist noch nicht an der Zeit.“
Sie ruhten den ganzen Sabbath über, wie es bei den Juden Vorschrift war. „Du weißt“, sagte Bruder Paul zu Jesus, „zu meiner Zeit ruhen wir am Sonntag, dem ersten Tag der Woche. Ich glaube, dieser Brauch stammt aus einer Berichtigung des Kalenders irgendwann.“
„Wie man den Tag nennt, spielt keine Rolle“, meinte Jesus, „solange man einen Tag von sieben nimmt, um meinen Vater zu ehren.“
Sie schliefen ein, denn alles war sehr ermüdend gewesen. Bruder Paul hatte einen Alptraum mit Demütigungen und Agonie und erwachte mit der Erkenntnis, daß diese Leiden nicht ihm, sondern den Gedanken Jesu entstammten. Sonderbarerweise war der Durst am schlimmsten gewesen, nicht die Nägel oder der Spott.
Als der Abend kam, weckte Jesus Bruder Paul. „Komm, wir müssen zum Grab.“
Ruhig machten sie sich auf den Weg, verließen den Raum, dann die Stadt und gingen zur Schädelstätte, wo man Jesu Leichnam in einer Grabhöhle versiegelt hatte. Die Nacht senkte sich bereits herab, und die Wachen am Tor blickten Bruder Paul neugierig an, weil nur wenige Leute des Nachts die Stadt verließen.
Plötzlich zitterte die Erde. Ein weiteres Erdbeben! Bruder Paul wurde zu Boden geschleudert … doch bald darauf beruhigte sich der Boden wieder. Paul hatte nur ein paar Abschürfungen bekommen und war schmutzig geworden. Sie gingen weiter.
Das Beben hatte noch weiteren Schaden angerichtet. Der große Stein, den man vor den Grabeingang gerollt hatte, war beiseite geworfen worden. „Danke, Vater“, sagte Jesus. Dann zu Bruder Paul gewandt: „Wir müssen den Körper fortnehmen und irgendwo vergraben, wo ihn niemand findet.“
Bruder Paul stellte keine Fragen. Wenn er einmal beginnen würde, Fragen zu stellen, würde er nie wieder aufhören. Er betrat die stille Grabkammer.
Dort lag der Leichnam, durch das Beben hochgeschleudert, häßlich. Bruder Paul faßte sich ein Herz und berührte ihn, wickelte die Tücher ab und schleppte ihn aus dem Grab. Er versuchte, die Nase gegenüber dem vermeintlichen Geruch zu versperren. Er schleppte ihn unter ein Gebüsch im Garten, fand dann ein geeignetes Stück Gestein und schaufelte ein so tiefes Grab, wie er nur konnte. Im Dunkeln bedeutete dies mühselige Arbeit, und jedes Mal, wenn er ein Geräusch zu vernehmen glaubte, hielt er inne, wagte kaum zu atmen, aus Angst, die Wachen würden zurückkehren. Sie waren
Weitere Kostenlose Bücher