Die Visionen von Tarot
zurück, wenn du … fertig bist.“
„Aber ich bin noch nicht fertig“, sagte Jesus. „Mein Leben und Tod bilden nur den Anfang und weisen den Weg. Jetzt muß der Rest der Welt folgen, um erlöst zu werden.“
„Ich bezweifle, daß dies bald geschehen wird.“
„Aber in der Schrift steht …“
„Manchmal brauchen die Dinge eben länger, als man vorhersehen kann. Wir wissen nicht, welchem Zeitmaß Gott folgt.“
„Dann muß ich bleiben und es beobachten. Ich kann die Menschen nicht allein weitertreiben lassen.“
Bruder Paul schüttelte den Kopf. „Jesus, ich fürchte, es wird dir nicht alles gefallen, was du siehst.“
Aber Jesus hatte sich entschieden. „Komm, Freund Paul – du und ich, wir werden alles beobachten. Bring deinen Körper zurück an seinen Platz, und im Geiste wandeln wir zusammen weiter.“
Bruder Paul versuchte einen Protest, aber der Wille Jesu obsiegte. „Gut … wir werden zusammen zusehen. Aber ich glaube, direkt teilnehmen können wir nicht, weil du physisch tot bist und ich noch nicht geboren bin.“
„Komm“, sagte Jesus.
Bruder Pauls Körper zitterte und löste sich auf. Er war in seine Welt zurückgekehrt – aber er und Jesus standen immer noch nebeneinander.
„Komm“, wiederholte Jesus und nahm Bruder Paul bei der ätherischen Hand. „Wir folgen dem lahmen Pharisäer.“
Sie flogen durch die Lüfte wie die Geister, unsichtbar für alle anderen außer für einander. Als dies zu mühselig wurde, sprangen sie einfach durch Raum und Zeit, verschwanden von dem einen Ort und tauchten an einem anderen wieder auf.
Sie folgten Paulus von Tarsus. Der Apostel Paulus war zwar körperlich nicht sehr anziehend und kein sonderlich guter Redner, aber er besaß sehr wohl einen guten, wenn auch einseitigen Verstand. Seine Logik war überzeugend, und seine Schriften wohlgesetzt. Er verfügte auch über bemerkenswerte Entschlußkraft; ein geradezu perverser Mut ließ ihn auf dem einmal gefaßten Kurs beharren. In einigen Städten machte man sich über ihn lustig und verfolgte ihn sogar, doch er machte weiter. Viele der anderen christlichen Führer mißtrauten ihm und versuchten, etwas gegen ihn zu unternehmen, doch er hinterließ überall viele Bekehrte.
„Aber das ist nicht meine Botschaft!“ protestierte Jesus. „Ich wollte keine neue Kirche gründen, sondern nur den Weg zeigen.“
„Ich sagte schon, es wird dir nicht gefallen“, erinnerte ihn Bruder Paul. „Aber wenn es notwendig ist, eine neue Religion zu gründen, um den Menschen den Weg zur Erlösung zu weisen …“
Jesus seufzte. „Vermutlich ist es das“, sagte er zweifelnd. „Da die Welt ohnehin bald ein Ende haben wird, spielt es keine große Rolle.“
Bruder Paul erwiderte nichts. Es war offensichtlich, die christliche Kirche entsprach weder dem Wunsch Jesu noch dem seiner Jünger, die ihn persönlich gekannt hatten. Daher war es offenbar notwendig, daß ein Mensch, der Jesus persönlich nicht gekannt hatte, eine führende Rolle bei der Verbreitung des Glaubens einnahm. Wie bei einem Geschäft, das scheitert: Man bringt von außerhalb einen professionellen Organisator ein, und der verrichtet seine Arbeit, ohne sich übermäßig um die Empfindlichkeiten der bestehenden Regeln zu bekümmern.
Aber es wurde offenkundig, daß der Apostel Paulus den Glauben seiner eigenen Vorstellung gemäß auslegte – und die war unglücklicherweise recht schmalspurig angelegt. Jesus, der kein Sexualleben hatte, hatte auch über Sexualität keinerlei Bemerkungen gemacht. Er hatte alle Menschen gleich behandelt und Frauen ebenso akzeptiert wie Männer, ohne Hinblick auf ihren Status oder früheres Bewußtsein. Willkommen waren Reiche ebenso wie Prostituierte,
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