Die Visionen von Tarot
Nagelwunde, die Bruder Paul ihm beigebracht hatte.
„Das war mein Schicksal“, sagte Jesus.
„Wenn ich etwas tun kann …“ sagte Bruder Paul und blickte auf das Blut. Aber was konnte er schon tun?
Wie betäubt ging er fort, setzte sich auf den Boden und wartete auf das Unvermeidliche. Langsam verstrich die Zeit. Der Himmel klärte sich auf, und die Nachmittagssonne erschien. Von Zeit zu Zeit näherten sich verschiedene Personen dem Kreuz, um mit Jesus zu sprechen, und manchmal schrie Jesus vor Schmerz und Verzweiflung auf, weil das Körpergewicht an den Nägeln zerrte, aber er wehrte sich nicht. Bruder Paul versuchte, seine Ohren dagegen zu feien, fühlte sich aber gleichzeitig deswegen schuldig. „Christus ist die Schuld“, murmelte er. „Wenn er leiden kann, dann muß ich es zumindest wahrnehmen.“
Dann sagte Jesus deutlich und klar: „Mich dürstet.“
Ein Soldat tauchte einen Schwamm in Essig, steckte ihn an einen Stab und hob ihn Jesus an die Lippen. Jesus nahm davon. Offensichtlich bedeutete dies keine weitere Folter, sondern diente dazu, die vertrockneten Lippen zu befeuchten. Der Essiggeruch würde vielleicht auch den Sterbenden einen Moment lang von seinen Qualen ablenken.
„Es ist vollbracht“, sagte Jesus.
Der Körper am Kreuz sackte zusammen – und Bruder Pauls Handrücken juckte. Geistesabwesend rieb er daran, weil er durch das entsetzliche Ende zu fassungslos war – und spürte klebriges Blut an seinen Fingern. Das Blut Jesu.
Bruder Paul starrte hinab mit dem Gefühl, als habe der Nagel sein eigenes Fleisch an dieser Stelle durchbohrt. Seine Hand brannte wie Feuer. Das Gefühl breitete sich über den Arm bis in die Schulter aus, nicht unangenehm, sondern sonderbar anregend. Es war, als sei ihm das Herz nun nicht mehr gebrochen.
Unvermittelt spürte Bruder Paul die Anwesenheit einer zweiten Aura, die seinen Körper neben seiner eigenen besetzte. „Hallo, mein Freund“, sagte Jesus in ihm.
„Das ist … Transfer!“ rief Bruder Paul erstaunt.
„Es gibt Dinge, die ich noch in diesem Reich zu tun habe“, sagte Jesus, „ehe ich zu meinem Vater zurückkehre.“
„Aber das ist nicht … ich soll doch nicht …“ Bruder Paul konnte seinen Widerstand dagegen nicht formulieren. „Historisch gesehen war ich doch gar nicht …“
„Ich hatte gedacht, du wolltest helfen“, erwiderte Jesus mit sanftem Vorwurf.
„Ich hatte gehofft … du weißt … ich gehöre eigentlich gar nicht dazu …“ versuchte Bruder Paul eine Erklärung.
„Ich verstehe das … jetzt“, sagte Jesus. „Ich kann nun deine Gedanken wahrnehmen, denn ich teile deinen Körper. Ohne dich könnte ich meine Mission auf der Erde vielleicht nicht vollenden. Ich werde dich nicht lange belästigen. Willst du mich nicht bei dir behalten, damit das Werk meines Vaters und das deine vollendet werden?“
Bruder Paul konnte diese Bitte kaum abschlagen – ungeachtet dessen, wie sehr es seine Mission verkomplizieren würde. „Ich werde dir helfen.“
Die Soldaten brachen den beiden Dieben an den Kreuzen neben Jesus die Beine, damit die Schurken früher starben und sich ihre Qualen nicht bis zum nächsten Tag hinziehen würden, dem Sabbath. Jesu Leichnam nahm man davon aus, weil er schon gestorben war: Ein Phänomen, welches die Zuschauer bemerkenswert fanden.
Der Legionär Longinus hegte Skepsis gegenüber einem so frühzeitigen Ableben, nahm den Speer und stach damit in die Seite des Leichnams. Eine Flüssigkeit rann heraus und am Schaft des langen Speeres entlang. Longinus tanzte einen Schritt zurück, während die anderen lachten, doch er konnte nicht verhindern, daß ihm das Blut ins Gesicht spritzte.
„Schande, Schande!“ rief ein Jude, der herbeieilte, um das Blut in einem
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