Die Visionen von Tarot
suchen könnte und dennoch den Mann nicht finden würde. Vielleicht war das genau Satans Plan? Bruder Paul mußte clever sein und die Möglichkeiten reduzieren. Fleischliche Sünden? Nein, nicht bei Lee. Geizig? Nein, wahrscheinlich nicht. Zornig? Nun, vielleicht …
Bruder Paul blieb stehen, weil ihm plötzlich einfiel, was ihm bis zu diesem Augenblick nicht klargeworden war. Er durfte sich weder an Lee noch an Jesus orientieren, sondern an der Kombination von beiden. In welchem Teil der Hölle würde sich dieses Paar wohl aufhalten? Sicher nicht bei den Ketzern, wenn sie auch begriffen hatten, zu was sich die Kirche Jesu entwickelt hatte …
Plötzlich hatte er es. „Schismatiker!“ rief er aus. „Jene, die sich von der Mutterkirche getrennt haben.“ Das würde auf Lee und auch auf Jesus zutreffen – denn Lee war ein Mormone, gewiß eine schismatische Sekte, und Jesus selber hatte die Kirche, die in seinem Namen folterte und sogar tötete, nicht mehr ohne Vorbehalte akzeptieren können.
Die Schismatiker befanden sich hier im achten Kreis, zusammen mit den Verführern, Zauberern, Dieben, Heuchlern, Lügnern, schlechten Ratgebern und anderen Betrügern. Bruder Paul stimmte mit Dantes Klassifikation nicht überein, mußte sich aber innerhalb des Rahmens bewegen, der ihm vorgegeben war. Schließlich hatten die Römer Jesus zusammen mit zwei Dieben gekreuzigt. In Rom, in der Hölle …
Er gelangte in das Gebiet der Schismatiker und suchte nach dem Gesicht Lee/Jesu. Hier schien es Morgen zu sein – die Zeit war überall in der Hölle anders –, und eine ganze Reihe von Seelen erhoben sich aus dem dumpfen Schlummer auf Felsen und hartem Boden. Sie schienen um einen bestimmten Stein herum Schlange zu stehen. Gab es etwa Frühstück?
Warum sollte irgend jemand in der Hölle schlafen oder essen? Das waren doch alles Geister! Nun, weder die Religion noch die Literatur hatten jemals das Bedürfnis verspürt, logisch zu denken!
Bruder Paul ging an der Reihe entlang. Sein Rechner tanzte fröhlich durch die Zahlenreihen. Die Männer waren nackt, so daß er keine Kennzeichen hatte, welcher Sekte sie angehörten. Er fragte sich, wo wohl die Frauen waren. Gehörten zu den von Dante beargwöhnten Sekten etwa keine Frauen? Für seine Zeit war Dante ein recht offener Geist, aber das vierzehnte Jahrhundert war in Europa keine sonderlich liberale Zeit gewesen.
Er umkreiste den Felsen aus der anderen Richtung, als die Geisterreihe eingeschlagen hatte. Am anderen Ende stieß er auf eine Bewegung …
Gott, nein! schrie er inwendig. Aber es traf zu. Dort stand ein Dämon mit einem riesigen Schwert, der auf die vorbeiziehenden Gestalten einhieb. Nicht einfach so, sondern mit bösartiger Präzision. Bei dem einen hieb er die Ohren und die Nase ab, bei dem nächsten öffnete er die Brust, und den nächsten entleibte er mit einem gewaltigen Hieb vom Hals bis zum Schritt.
Ohne Widerstand duldeten die Seelen diese Qualen, versuchten weder auszuweichen, noch beklagten sie sich. Sie keuchten vor Schmerz, klammerten sich aneinander und stolperten blutend weiter. Einem hingen die Eingeweide aus der Bauchwunde – doch er bewegte sich noch.
Bruder Paul trat auf ihn zu, um ihn aufzufangen, denn der Mann sah vertraut aus. „Herr, lassen Sie mich Ihnen helfen!“ Doch er war sich nicht sicher, was er angesichts dieses Entsetzens tun konnte.
„Es gibt keine Hilfe“, erwiderte der Mann. „Das ist eine ewige Strafe. Hilf dem, der nach mir kommt – er ist neu hier und wurde noch nicht geschlagen.“
„Wer bist du?“ fragte Bruder Paul und erkannte nun den Darsteller: Therion.
„Ich bin Mohammed, Gründer des moslemischen Schismas.“
„Mohammed! Aber du bist
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