Die Visionen von Tarot
Blick auf Carolyn, die nun auf einem Sessel saß. „Sie schläft.“
So war sie! In einem Augenblick diskutierte sie die heftigsten Schimpfwörter mit ihm, im nächsten war sie eingeschlafen. Erwachsene verloren meist diese Fähigkeit, was sie zu besseren Autofahrern machte, aber auch weniger ausdauernd. „Sie hat eine lange, schwere Zeit hinter sich“, stimmte Bruder Paul zu. „Wie kann ich Gott finden, wenn ich meinem Wunsch nach einem Kind nachhänge?“
„Sie haben mir verdeutlicht, wie ich mein Haus besser heize, indem ich weniger heize. Vielleicht werden Sie Gott finden, wenn Sie ihn in sich selber suchen. Sie müssen glauben, daß Sie würdig sind, über Gott zu urteilen!“
„Das werde ich niemals glauben! Ich bin einfach nicht würdig, über Gott ein Urteil zu fällen. Ich habe die Abgründe des Lasters in mir kennengelernt, die mich unfähig machen, irgend jemanden zu beurteilen! Ich …“ Hier brach Bruder Paul ab. „Daher kann ich diesen Auftrag nicht weiterführen. Ich weiß, daß ich nicht …“
„Aber was können Sie denn finden?“
„Satan“, entgegnete Bruder Paul düster. „Wir erlebten eine kurze Vision der Hölle, ehe wir wieder auftauchten. Ich suche Gott … aber ich fürchte, meine Natur ist der des Teufels ähnlicher.“
„Ist Satan nicht auch ein Gott?“
Bruder Paul starrte ihn an. „Sie meinen … ich solle nach Satan suchen?“
„Das vermag ich nicht zu beantworten. Ich weiß lediglich: Als ich mir den kleinen Teufel, der meinen Sohn verfolgt, lange genug angesehen hatte, empfand ich bestimmte Gefühle für ihn. Ich sah, wie sanft die Frau mit dem Kind umging. Als ich also den Teufel betrachtete, saß ich vor einem Engel. Ich glaube nicht an Ihren Satan … aber es ist möglich, daß auch er seine Verdienste hat. Vielleicht erscheint er nur als so böse, weil wir ihn nicht gut genug begreifen?“
Bruder Paul schritt in dem kleinen Raum auf und ab. „Irgendwie denke ich an die Karte ‚Mäßigung’ beim Tarot. Eine Frau gießt Wasser aus einem Krug in einen anderen, als wolle sie es mit Sauerstoff anreichern und erneuern. Wenn man eine Seele von einem Körper in den anderen überträgt, transferiert man eine Person von einem Leben in ein anderes. Vielleicht von der Erde in die Hölle. Und Sie … Sie transferieren meine Stoßrichtung von einer Richtung in die andere. Vielleicht klappt es mit Hilfe der Präzession.“
„Wir müssen alle dort suchen, wo wir finden müssen“, stimmte Siltz zu. „Und tun, was wir tun müssen. Einige richten sich nach dem Golde aus, andere nach der Bibel – aber wer will schon sagen, was richtig ist und was falsch – oder ob es so etwas wie richtig und falsch überhaupt gibt? Offensichtlich besitzt der Himmel mehr Vorteile als die Hölle – aber was offensichtlich ist, muß nicht immer stimmen.“
Nachdenklich nickte Bruder Paul. Er dachte daran, wie der riesige Satan aus Dantes Inferno ihm zugezwinkert hatte. Sicherlich war das eine unvollständige und platte Vorstellung von Satan, eine, die man hinweglachen konnte – und genau das hatten sie ja auch getan. Er war mehr oder minder Zuschauer in dem Spiel um Lees Qualen gewesen. Dieses Mal würden die Qualen aber Paul selbst betreffen.
Doch als er so darüber nachdachte, schien es ihm zunehmend notwendig. Er hatte versucht, die Götter anderer von einem objektiven Standpunkt aus zu prüfen, und war gescheitert, weil er nicht genug über sie wußte. Er hatte versucht, seine christliche Religion zu überprüfen und war wiederum gescheitert. Die letzte Antwort lag wohl in ihm selbst – und wenn er sich selber erkennen wollte, dann mußte er sich den Prüfungen stellen. Nur dann würde er seine Fähigkeit beweisen, Gott zu beurteilen. Wie sich Lee der Prüfung in der Hölle
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