Die Visionen von Tarot
auf der Jagd nach dem menschlichen Glück andeutete. Löwenbeine, die für ebenfalls erforderlichen Mut und Kraft standen, nämlich für den menschlichen Willen. Und Adlerflügel, die jene Intelligenz, Stärke und Mut verhüllten, bis die Zeit zum Fliegen käme. So bildete die Sphinx als Ganzes das Symbol verhüllter Intelligenz, Stärke und Willen, den die Herren der Zeit besitzen.
Berühmte Griechen waren hierhergekommen, um zu den Füßen der Meister zu studieren: Thaies, Pythagoras, Plato und viele andere.
Thaies war der erste gewesen, der Wasser als wichtigste Substanz des Universums erkannt hatte, welche sowohl Veränderungen als auch Beständigkeit erklärte. Pythagoras, bekannt durch seine Doktrin der Seelenwanderung und den Satz des Pythagoras. Plato, ursprünglich bekannt durch seine Dialoge mit seinem Lehrer Sokrates und durch die These, daß Wissen gut, Ignoranz hingegen schlecht sei. Alles Giganten der Philosophie. Jetzt war Bruder Paul an der Reihe, mit jenen Meistern der berühmten Griechen zusammenzutreffen – wenn er sich traute.
Es war noch Zeit. Bruder Paul trat vor die Sphinx hin. Zwischen den ausgestreckten Vorderpfoten erkannte man in der Brust die Umrisse einer Tür. Sie bestand aus Bronze und war so verwittert, daß sie zum Stein der Statue paßte. Er ging darauf zu, holte tief Luft und streckte eine Hand aus, sie zu berühren.
Nichts geschah. Das Metall bleib neutral, weder kühl noch heiß, und es war fest. Er tastete den Rand ab, ob er eine Klinke oder einen Hebel fände, aber da war nichts. Er konnte die Tür nicht öffnen.
Stumm seufzte er. Er hob eine Hand hoch und klopfte einmal. Keine Antwort. Wollte er wirklich hier hinein? Wieder pochte er, und dann ein drittes Mal. Theoretisch gesehen, hatten die alten Meister über sämtliches Wissen verfügt und konnten seine Fragen beantworten – wenn sie nur wollten. Aber zunächst mußte er sich ihren Riten des Eintritts unterziehen. Und das konnte, wenn man den alten Legenden glaubte, gefährlich sein. Aber er klopfte weiter, halb in der Hoffnung, niemand würde reagieren. Dann, beim fünften Pochen, öffnete sich die Tür lautlos.
Drinnen standen zwei mit Kapuzen verhüllte Gestalten, deren Gesichter nicht erkennbar waren. Eine schien durch ihre kräftige Gestalt und Haltung männlich zu sein, die andere war kleiner und zierlicher – offensichtlich eine Frau. „Wir sind Thesmotheten, Wächter der Riten“, sagte der Mann. „Wer bist du, da du an der Tür zum Okkulten Heiligtum klopfest?“
Bruder Paul meisterte seine Nervosität. „Ich bin ein bescheidener Suchender nach der Wahrheit. Ich möchte den Wahren Gott von Tarot kennenlernen.“
Unter der Kapuze glaubte er ein Stirnrunzeln zu erkennen. „Verstehst du, Postulant, daß du dich vollständig unserem Geheimnis hingeben mußt?“ fragte der Thesmothet. „Daß du unserem Rat folgen mußt, als sei er ein Befehl, und keine Fragen stellen darfst?“
Bruder Paul schluckte. „Ich verstehe, Thesmothet.“
Der Mann trat zur Seite. „Dann tritt ein, Postulant.“
Bruder Paul trat hinein. Die Frau berührte die Wand; eine Feder schnappte auf und gab einen verborgenen Mechanismus frei. Lautlos schloß sich die Tür – und drinnen wurde es vollständig dunkel.
Eine kleine Hand griff nach der seinen. Das war gewiß der stumme Thesmothet, die Frau. Sie führte ihn hinein in den Bauch der Sphinx. An den Ort der Verdauung? Der Sexualtrieb des Kamels … nein, nicht einmal daran denken durfte er! Die Frau hieß ihn durch leichten Druck der Finger stehenzubleiben. Er spürte, wie sich ihre Gestalt ein wenig verkleinerte, und merkte, daß sie eine Stufe hinabgegangen sein mußte. Vorsichtig streckte er den Fuß aus und
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