Die Visionen von Tarot
der nicht da ist. Es gibt kein Eisschiff von der Erde. Ich bin ein Geist.“
Sie lachte. „Ach, komm schon! Das steht aber nicht in der Rolle!“
„Doch!“
„Gut. Ich spiele weiter. Ich bin immer schon neugierig darauf gewesen, mit einem Geist zu schlafen.“
„In wenigen Augenblicken werde ich meine wahre Gestalt annehmen: die deines geliebten Brudermannes, der, wie sich herausstellen wird, die ganze Zeit über bei dir gewesen ist. Bist du bereit?“
„Aber das …“
„Jetzt.“ Bruder Paul strengte sich an und hoffte, die Präzession würde sich nicht vereiteln – und verschwand aus dem Bild.
Als die Szene sich auflöste, fragte er sich nur: Wer spielt nun die Rolle ihres Brudermannes?
IV Zeit Trumpf 12
Die Sphinx, die in einiger Entfernung vom Fuß der Großen Pyramide kauert, ist aus dem Granitplateau selber gehauen; zwischen dem Felsboden und ihrem Fuß gibt es keine Unterbrechung. Die Höhe, etwa 25 Meter, vermittelt einem eine Vorstellung von der ungeheuren Arbeitskraft, die man angewendet haben muß, um sie von unerwünschten Steinen zu befreien und den Boden gleichmäßig zu behauen. Die Gesamtlänge beträgt 50 Meter, die Höhe vom Kinn bis zum Kopf 8 Meter, der Kopf umfang an den Schläfen 36 Meter, wobei das Gesicht 2,60 Meter breit und der Kopf 10 Meter lang ist. Die Granitschichten, aus denen sie herausgehauen wurde, unterteilen das Gesicht in horizontale Streifen; der Mund ist teilweise durch den Zwischenraum zwischen zwei Steinschichten gebildet. Man hat ein mehrere Meter tiefes Loch in den Kopf gebohrt, welches man wahrscheinlich benutzt hat, um Schmuckstücke anzubringen.
Dieser behauene Felsen von rötlicher Farbe strahlt eine ungeheure Wirkung aus, wie er dort ruhend die Wüste überblickt. Die Sphinx ist wie ein in Aufmerksamkeit angespanntes Phantom – man möchte fast meinen, sie lauscht und sieht richtig. Das große Ohr scheint alle Geräusche der Vergangenheit zu vernehmen; die Augen, nach Osten gerichtet, scheinen in die nebelhafte Zukunft zu blicken. Der Blick hat eine Tiefe und Starrheit, die den Betrachterfaszinieren. In dieser Statue erblickt man eine sonderbare Majestät, eine große Würde und sogar eine gewisse Sanftheit.
Paul Christian, The History and Practice of Magic,
New York 1969
Bruder Paul stand vor der Sphinx. Das Steinwesen wirkte im Licht des Vollmondes beeindruckend, um so mehr, als seine Nase intakt war: Dies war offensichtlich vor dem Zeitpunkt, als Napoleons Kanoniere sie abschossen.
Was für ein Tier, das dort wie ein lebendiges Wesen kauerte! Bruder Paul spürte ein Kribbeln im Nacken. Das war eine Animation – aber konnte er wirklich sicher sein, daß diese Kreatur nicht lebte?
Aber sie lag absolut reglos. Kein Atem, kein Puls, keine Bewegung der Augen. Leblos. Glücklicherweise.
Aber er würde es doch nachprüfen, einfach um sicherzugehen., „Der Sexualtrieb des Kamels ist weitaus stärker, als man glaubt’“, sagte er laut und zitierte aus dem Gedächtnis ein Gedicht aus der Zeit vor seinem Eintritt in den Heiligen Orden der Vision. „’Eines Tages, bei einem Treck durch die Wüste, hat es die Sphinx aufs größte beleidigt.’“
Er hielt inne, lauschte, beobachtete. Keine Reaktion. War das Monster wirklich leblos, oder wartete es noch?, „Heute ist die Sphinx fast verwaschen durch die Wasser des Nil, das Kamel aber hat den Höcker noch, und die Sphinx, die lächelt noch still.“
Immer noch nichts.
Kein Zweifel. Wenn sich das Wesen ruhig diese Verse angehört hatte, dann mußte es tot sein.
Er betrachtete die einzelnen Teile der Figur. Ein Frauenkopf, der an menschliche Intelligenz, Streben und Strategie denken ließ. Ein Bullenkörper, der die unerschöpfliche Kraft
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