Die Visionen von Tarot
fand die Stufe.
Es war eine Wendeltreppe. Bruder Paul neigte zum zwanghaften Zählen; in den letzten Jahren hatte er oft versucht, sich diese Gewohnheit auszutreiben, aber unter Streß kehrte der Drang zuweilen unwiderstehlich zurück. Er mußte wissen, wieviel es von allem gab, was ihm begegnete, wie unwichtig es auch immer sein mochte. Er zählte dreißig Stufen, ehe der Gang wieder eben wurde.
Hier kam eine weitere Tür – ohne Zweifel aus Bronze –, die leise geöffnet und, nachdem sie hindurchgegangen waren, auch wieder geschlossen wurde. Offensichtlich kannten die Thesmotheten dieses Labyrinth auswendig, denn sie fanden unbeirrt ihren Weg. In diesem neuen Gang war die Luft kühler, aber nicht schal. Das ließ an ein gutes Entlüftungssystem denken, denn er befand sich in einer vergangenen Zeit – Jahrtausende vor Erfindung der Klimaanlage.
Er hörte das Echo seiner Schritte und gewann den Eindruck einer großen, runden Kammer. Er dachte an eine Geschichte, die er einst gelesen hatte, Edgar Allen Poes Grube und Pendel, und seine Nervosität nahm zu. Aber seine Führer blieben natürlich neben ihm – man würde die Gruppe nicht in irgendein Verlies fallen lassen, ob nun mit Pendel oder ohne.
Plötzlich blieben beide Thesmotheten stehen; der Arm des Mannes hielt Bruder Paul auf. „Wir stehen am Rande eines Abgrundes“, sagte er. „Ein Schritt weiter, und du wirst hinabfallen.“
Aha. Wäre Bruder Paul allein hierhergekommen, wäre er in dieser Finsternis unweigerlich hinabgefallen. Er hätte ein Licht mitbringen sollen – aber dann hätten sie ihn wohl nicht hineingelassen. „Ich werde warten“, sagte er. Er wollte gerade nach dem Sinn dieses Ganges zum Abgrund fragen, dachte aber gerade noch daran, daß er keine Fragen stellen durfte.
Doch seine unausgesprochene Frage wurde beantwortet. „Dieser Abgrund“, begann der Mann, „umgibt den Tempel der Mysterien und schützt ihn vor Tollkühnheit und Neugier des Profanen. Wir sind ein wenig früh angekommen; unsere Brüder haben die Zugbrücke noch nicht herabgelassen, über die die Initiierten an diesen heiligen Ort gelangen. Wir werden auf ihre Ankunft warten. Aber wenn dir dein Leben lieb ist, bewege dich nicht, bis wir es dir sagen.“
Ermahnte der Thesmothet zuviel? Vielleicht gab es einen Abgrund, vielleicht aber auch nicht. Aber Bruder Paul konnte es sich kaum leisten, in der Annahme fortzuschreiten, es gäbe gar keine Bedrohung. Nicht nach den Geschehnissen in den anderen Animationen. Dieses Mal war alles so arrangiert, daß seine Kontrolle über bestimmte Dinge auf Null gesunken war. Er war diesen anonymen Leuten ausgeliefert von dem Augenblick an, in dem er die Sphinx betreten hatte. Aber er war ja freiwillig gekommen, war auf der Schwelle zum Unbekannten, und wenn die Antwort hier lag …
Plötzlich funkelte Licht auf, das nach der tiefen Dunkelheit blendend wirkte. Vor ihm standen zwei groteske Ungeheuer, beide in weiße Roben gekleidet, einer mit einem goldenen Gürtel und Löwenkopf, der andere mit silbernem Gürtel und Ochsenkopf. Gerade als sich seine Augen daran gewöhnt hatten und er sie betrachten konnte, öffnete sich zwischen ihnen eine Falltür. Daraus erhob sich eine schauderhafte Erscheinung, die eine Sichel schwang. Sie erinnerte auf höchst eindringliche Weise an das Skelett des Todes im Tarotspiel. Mit fürchterlichem Brüllen schwang es die Sense auf Bruder Pauls Kopf zu.
Sein erster Instinkt befahl ihm zurückzuweichen, um aus der Reichweite der Waffe zu gelangen. Der zweite sagte ihm, sich unter der Klinge wegzuducken, um mit der Erscheinung zu ringen. Aber der dritte überwand die beiden
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