Die Visionen von Tarot
öffnete sich ein Gang, eine Arkade, schmal und so niedrig, daß man unmöglich auf Händen und Knien hindurchkriechen konnte. „Laß diesen Pfad für dich das Grab darstellen, in dem alle Menschen schließlich einmal ihre Ruhe finden“, sagte Therion feierlich. „Aber sie erwachen, befreit aus der Dunkelheit der materiellen Dinge, in ein Leben des Geistes. Du hast die Erscheinung des Todes besiegt – nun kannst du über die Schrecken des Grabes im Einsamkeitstest triumphieren.“ Und beide Thesmotheten streckten die Hände in Richtung auf die Öffnung hin aus.
Nun zögerte Bruder Paul. Warum schickten sie ihn nun allein aus? Welche Schrecken hielten sie für so furchterregend? Dieses Loch – wenn er dort einmal hineingekrochen wäre und es noch schmaler würde, könnte er sich bestimmt weder umdrehen noch weiter kriechen. Er würde mit den Füßen zuerst sich zurückwinden müssen wie bei einer Steißgeburt, und das Eingangsloch würde wahrscheinlich ebenfalls versperrt sein.
Die beiden Thesmotheten blieben so stehen wie zuvor, die Finger deuteten auf das Loch. Weder machten sie ihm einen Vorwurf wegen seiner Schwäche, noch ermutigten sie ihn weiterzumachen. Was würden sie tun, wenn er sich nun störrisch zeigte?
Eigentlich wußte er es. Er hatte einmal von einem solchen Test gelesen, doch die Erinnerung daran war nur schwach und flüchtig und kehrte nur durch dieses neuerliche Erlebnis angereizt zurück. Der Anwärter, der die Nerven verlor, wurde nicht ausgeschlossen, und man machte ihm auch keine Vorwürfe. Man führte ihn lediglich von der heiligen Stätte fort. Das Gesetz der Magie lautete, daß er niemals wieder einem Test unterzogen würde; man hatte seine Schwäche erkannt. Wenn er also seine Antwort haben wollte, dann jetzt oder niemals. Das Gesetz der Animationen war in gewissem Sinne ebenso unbeugbar wie das Gesetz der alten ägyptischen Mystiker. Er hatte noch nicht eine Vision doppelt erlebt. Die Unabwägbarkeiten der Dynamik dieser Situation schien ihm zu groß, um ihm die Wiederholung irgendeiner Szene zu erlauben.
Bruder Paul war nicht ungewöhnlich klaustrophobisch veranlagt, aber das hier gefiel ihm ganz und gar nicht. Er war kein sehr schlanker Mann: Ein für einen einen Meter fünfzig großen Ägypter oder Griechen passabler Durchgang würde für ihn nicht genügen. Wenn er zwischen diesen Tausenden von Tonnen Gestein eingeklemmt würde …
Die beiden Thesmotheten warteten weiter und deuteten wie Statuen immer noch in die gleiche Richtung. Bruder Paul schickte ein stilles Gebet an den Gott, welcher auch immer diese Situation beherrschte – vielleicht Thot? – und bückte sich, um die furchterregende Öffnung zu betreten.
Amaranth bückte sich ebenfalls nieder. „Gott sei zwischen dir und dem Leid an allen menschenleeren Plätzen, an die du ziehen mußt“, murmelte sie und küßte ihn flüchtig auf den Mund. Dann schob Bruder Paul die Lampe vor sich und kroch los.
Sanft neigte sich die Röhre abwärts. Die Wände bestanden aus poliertem Granit, der absolut glatt wirkte, als habe ihn ein riesiger Steinwurm glattgeschliffen. Es war gerade genügend Platz für ihn. Indem er sich an den Ellenbogen vorzog und mit Hilfe von Zehenschub die Knie nachzog, bewegte er sich vorwärts, bis er im Tunnel verschwunden war.
Ohrenbetäubend schlug die schwere Bronzetür ins Schloß. Wie aus weiter Entfernung erklang eine vibrierende Stimme: „Hier vergehen alle Narren, die nach Erkenntnis und Macht streben!“ Gefolgt von einem Echo: „… Macht … Macht … Macht … Macht … Macht … Macht … Macht!“ Sieben deutliche Echos, die sich in sein Hirn bohrten. Die Wirkung war entsetzlich. Bruder Paul wußte von dem wichtigen
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