Die Visionen von Tarot
ersten: Er blieb wie erstarrt stehen.
Die Klinge schwang so dicht über seinen Kopf hinweg, daß sie ihm hätte ein Haar spalten können. Eine kleine Locke fiel sogar über seine Stirn herab. „Wehe dem, der den Frieden der Toten stört“, schrie das Ungeheuer, wirbelte vollständig herum und holte zum zweiten Mal mit der Sichel zum Schlag aus. Doch wieder erkannte er den Weg der Klinge im voraus und zuckte nicht zurück. Das war Angstmacherei, kein ernsthafter Angriff, ein Test für seinen Mut, auf den ihn sein Judotraining gut vorbereitet hatte.
Noch viermal kam die Sichel auf ihn zu, und jedes Mal blieb er ungerührt stehen. Doch beim siebten Mal bewegte sich die Gestalt: Dieses Mal ging es ihm an den Kragen!
Bruder Paul nahm das Risiko in Kauf und blieb stehen. Gewiß hatte man nicht diese ausgefallene Umgebung präsentiert, um einen Menschen zu exekutieren, der keinen Widerstand leistete. Und als die Klinge ihn berührte – verschwand das Ungeheuer. Es fiel in sein Loch zurück, und die Falltür schloß sich. Auch dies war ein Bluff gewesen, die Bedrohung war substanzlos.
Nun legten Bulle und Löwe ihre Masken ab. Zum ersten Mal sah Bruder Paul die Gesichter: Therion und Amaranth.
„Meinen Glückwunsch“, sagte Therion. „Du hast die Kälte des mörderischen Stahls gespürt und bist nicht zurückgewichen, du hast das Entsetzen der Entsetzen erblickt und bist nicht ohnmächtig geworden. Gut! Sehr gut! In deinem Land würdest du als Held gelten.“ Er runzelte die Stirn. „Aber bei uns gibt es höherstehende Tugenden als Mut. Worin besteht deiner Meinung nach die Bedeutung unserer Kleidung?“
Bruder Paul hatte es bereits herausgefunden. „Du bist der Löwe, ein Teil der Sphinx mit dem goldenen Gürtel, was den astrologischen Löwen und die Sonne darstellt. Sie, maskiert als Bulle, ist ein weiterer Aspekt der Sphinx – Stier und Mond. Sonne und Mond zusammen sollen gemeinsam auf die Menschenwesen die stärksten Einflüsse ausüben. Aber der Mensch lebt nicht allein durch Sonne und Mond; es gibt noch den grausamen Einfluß der Zeit, die die Chance eines frühzeitigen Todes birgt …“
„Du bist auf höchst beeindruckende Weise gescheit“, sagte Therion. „Aber wir kennen noch einen Wert, der uns mehr gilt als Klugheit. Nämlich die Demut, die über Eitelkeit und Stolz triumphiert. Bist du zu einem solchen Sieg über dich selbst imstande?“
Der körperliche Test war also vorbei. Nun war Bruder Paul für den moralischen bereit. „Ich bin bereit, es herauszufinden.“
„Sehr gut“, meinte Therion. „Bist du bereit, flach auf den Boden gepreßt zum innersten Heiligtum zu kriechen, wo unsere Brüder auf dich warten, um dir als Gegenleistung für deine Demut das Wissen und die Macht zu geben, die du suchst?“
Warum diese zweite Herausforderung? Er suchte doch wirklich nicht nach Macht. Aber er schien keine andere Wahl zu haben, als es zu akzeptieren. „Ich bin bereit.“
„Dann nimm diese Lampe“, sagte Therion. „Es ist das Bildnis von Gottes Antlitz, das uns folgt, wenn wir vor den Blicken der Menschen verborgen einhergehen. Geh ohne Furcht – von nun an brauchst du nur noch vor dir selber Angst zu haben.“
Bruder Paul dachte an sein Erlebnis mit den sieben Kelchen und war nicht beunruhigt. Welche anderen Schauderhaftigkeiten lauerten auf ihn … in ihm selber? Er nahm die Lampe und sah sich um. Die Kammer war aus Granitsteinen kuppelförmig gebaut; es gab weder Eingang noch Ausgang. Aber wiederum hielt er sich an die Weisung und stellte keine Fragen.
Nach einem Moment berührte Amaranth eine andere verborgene Feder in der Mauer. Eine Eisenplatte glitt zur Seite. Sie war mit Granit bedeckt, um wie ein Steinblock auszusehen, wenn sie an der richtigen Stelle saß. Dahinter
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