Die Visionen von Tarot
Einfluß von Geräuschen auf menschliche Gefühle, der jegliche Vernunft überwindet. Und er konnte sich der schreckerregenden Wirkung nicht entziehen.
Hatte der Magi ihn dennoch zum Tode verurteilt? Das wäre eigentlich nicht verständlich, weil sie ihn dann schon draußen vor der Sphinx hätten stehenlassen können. Wenn sie vorhatten, ihn lebendig zu begraben, warum hatten sie ihm dann diese gute Lampe mitgegeben?
Allmählich ließ die irrationale Furcht nach. Es mußte einen Ausweg aus dieser Röhre geben – er mußte sich nur weiterbewegen. Aber es nahm kein Ende. Bruder Paul hatte einen guten Orientierungssinn, vielleicht eine Folge seines zwanghaften Zähltriebs. Und der verriet ihm, daß er sich nicht mehr unterhalb der Sphinx befinden konnte! Dieser unendliche Tunnel führte weiter unter das Plateau selber – auf die Große Pyramide zu! Außerdem führte die Röhre immer weiter abwärts, tiefer und tiefer in den Felsen hinein. Was sollte er tun, wenn die bereits spuckende Lampe erlosch?
Immer weiter. Knie und Ellenbogen wurden wund, bluteten vielleicht schon, aber er konnte nicht anhalten. Nervosität ließ ihn keine Rast machen. Er nahm die Lampe abwechselnd von einer Hand in die andere und probierte verschiedene Kriechmethoden aus – und kroch immer weiter.
Schließlich verbreiterte sich der Tunnel. Welche Erleichterung! Er erhob sich eine Weile auf Hände und Knie und ging dann gebückt weiter. Aber der Boden neigte sich immer noch abwärts. Der zusätzliche Raum wurde gewonnen, indem der Boden von der eben verlaufenden Decke nach unten führte. Er kam nicht dichter an die Oberfläche.
Unvermittelt brach der Boden vor ihm ab. Das schwache Lampenlicht beleuchtete einen unergründlich tiefen Krater, einen Kegel, der sich tief in den Felsen bohrte, dessen Seitenwände glitschig und hart aussahen. Dort, wo der Tunnel abbrach, wurde der Weg durch eine eiserne Leiter fortgesetzt, die in diese düstere Höhlung hinabführte. Es gab keinen anderen Weg, nur über die Leiter konnte er voranschreiten oder besser gesagt: hinabsteigen. Nun hatte er genügend Platz, sich umzudrehen, war sich aber sicher, daß die Rückkehr in den Tunnel keine kluge Entscheidung wäre.
Er begann, die Leiter hinabzusteigen, und tastete nervös jede Sprosse auf ihre Belastbarkeit hin ab, ehe er sein volles Gewicht darauf verlagerte. Doch alle hielten stand. Und natürlich zählte er sie: zehn, zwanzig, dreißig, immer weiter.
Es waren genau hundert Stufen. Aber die Leiter führte nicht auf eine andere Ebene oder einen hinabführenden Gang , sondern endete in einem kreisrunden Loch. Bruder Paul hatte nicht vor, sich versuchsweise hinabfallen zu lassen, aber er war sich sicher, dies war ein Verlies, ein tödlich tiefer Abgrund ohne Ausgang. Hier galt es, mißtrauisch zu sein.
Aber sonst gab es keinen Weg. Was nun?
Gott zwischen mir und dem Leid an allen menschenleeren Orten. Ich muß weitergehen, dachte er und starrte in die Tiefe. Möge es von jenen menschenleeren Orten viele breite Fluchtwege geben!
Bruder Paul überdachte seine Lage. Es mußte eine Alternative geben. Dieser Rahmen war zu aufwendig, um einfach nur eine Todesfalle zu sein. Daran mußte er fest glauben. Alles, was er zu tun hatte, war, die andere Möglichkeit herauszufinden. Die Leiter führte hinab und endete hier. Eine verborgene Fortsetzung kam nicht in Frage, denn die letzte Sprosse hing in der feuchten Luft oberhalb der Grube. Aber er konnte noch weitersehen.
Er stieg hinab, hing dann beide Beine um die unterste Sprosse, indem er die Knie darum hakte. Zweimal hopste er, so fest es ging, darauf, um die Belastbarkeit zu überprüfen, doch die
Weitere Kostenlose Bücher