Die Visionen von Tarot
Freimut lag zugleich etwas Abschreckendes und Erfrischendes. Es half einem, herauszufinden, wo man genau stand.
„Vielleicht stellt sich der Gott von Tarot als Abraxas heraus“, sagte Bruder Paul.
Die Unterhaltung machte ihn nervös, weil Amaranth einfach zu attraktiv war, in den Animationen wie auch im wirklichen Leben. Und noch irritierender war, daß sie ihn als elementares Wesen gesehen hatte, als lustverstrickten Mann, als einen Spieler am Rande des Gesetzes, als Drogensüchtigen. Sie hatte den Kot gerochen. Sie hatte gesehen, wie die Maske von dem herabgerissen wurde, was sich heute als sanfte Religion tarnte und einst so gänzlich anders gewesen war – und dennoch verdammte sie ihn nicht. Gab es in der menschlichen Sphäre noch eine andere Frau, die seine psychische Nacktheit erkannte, den Schmutz seiner Seele, und nicht zurückwich? Er hatte im Moment nicht die Absicht, ihrem Angebot nachzugeben – doch in der Animation war es ihm offensichtlich anders ergangen.
Was war denn sein wahres Selbst?
Man hörte einen Schrei – ein ungewöhnliches, unirdisches Geräusch, das einem die Haare zu Berge stehen ließ und über die Landschaft zitterte. Ein wildes Tier – oder etwas noch Schlimmeres.
„Großfuß!“ rief Amaranth. Dann, mit aufkeimendem Entsetzen: „Das Kind!“
Beide begannen, auf den Laut zuzurennen. Hier war der Boden unregelmäßiger, als wolle er sie, nun, da sie in Eile waren, hindern. Auf dem Hang wuchs dichtes Untergehölz – größere Weiden, kleine Bäume, dichtes Buschwerk und wurzelartige Auswüchse, deren Bedeutung er nicht kannte. In seinen Hosen verfingen sich Kletten und ritzten in die Haut. Er duckte sich, um eine kleine, glühende Motte in Kniehöhe zu umgehen, merkte dann aber, daß es sich nur um den Blütenstand einer Wald weide handelte. Mit einem Fuß strauchelte er in einer Kuhle und fiel kopfüber nach vorn, bis er von einem quer liegenden Ast abgefangen wurde, den er im Dunkeln nicht gesehen hatte.
„Nein … hier herum“, keuchte Amaranth. „Ich kenne diese Gegend ein wenig. Ich bin mit dem Knochenbrecher hier gewesen, als die Erscheinung schwand. Ich bin zwar gesund, aber so rennen wie du kann ich nicht.“
Natürlich nicht. Nur wenige Männer rannten so schnell wie er – und keine ihm bekannte Frau. Das war ein Problem. Sie kannte die Gegend, konnte aber nicht mithalten. Er hatte überschüssige Kraft, würde sich aber in dieser unvertrauten Dunkelheit verirren. Beide mußten sie ihr Tempo herabsetzen.
Ein weiterer Schrei ertönte, schlimmer als der erste. „Großer Gott Abraxas!“ rief Amaranth. „Rette das Kind!“
Bruder Paul sprang nach vorn, durch die Sorge wie elektrisiert – und stolperte über einen abgestorbenen Baum. Rinde fuhr ihm über das Gesicht, und für einen Augenblick machte ihn der auf stiebende Staub fast blind. Die Augen brannten ihm. Er konnte nicht schneller; andernfalls würde er niemals dorthin kommen.
„Diese Schlucht hinauf“, keuchte Amaranth, vermutlich dicht hinter ihm. Sie war wirklich eine gute Läuferin – für eine Frau. „Aber paß auf den Felsen oben am Grat auf.“
Bruder Paul ging langsam hinter ihr her, legte ihr den Arm um die Taille und setzte sie sich auf die Hüfte. So rasch wie möglich trug er sie den Hang hinauf.
„Da ist der Felsen!“ sagt sie. Er sah nichts, kletterte aber aus der Schlucht heraus. „Jetzt der Grat … er fällt einen Fußbreit ab … wir müssen springen …“
Er wurde langsamer, war verwirrt: „Oh, nur ein Meter.“ Er fand den Grat, ließ sie herab, und beide sprangen in die dunklen Schatten. Es hätte auch ein bodenloser Abgrund sein können wie bei Vulkanen, wenn man nur nach der Sichtweite geurteilt hätte. Ohne ihre Information hätte er den
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