Die Voegel der Finsternis
würde sie mit seinen kräftigen Flügeln leicht überwältigen können.
Ein groß gewachsener, junger Mann rannte mit fuchtelnden Armen auf sie zu. Dorjan? „Wach auf!", schrie er. „Wach auf." Sie dachte, er müsste gleich auf sie aufprallen, er verlangsamte seine Schritte nicht. Dann war er bei ihr und rammte ihr seinen Finger gegen die Stirn.
Sie fiel aus dem Bett!
Der Fußboden ihres Zimmers lag wie eine Landkarte im Mondlicht, das durch das Fenster schien. Sara rieb sich die Stirn, kam auf die Knie und langte nach dem Bett. Mit steifen Fingern klammerte sie sich an die Bettdecken. Es kam ihr vor, als flattere der Vogel aus ihrem Albtraum immer noch über ihr, bereit herabzustoßen und sie zu packen.
Von der anderen Seite des Zimmers hörte sie ein Röcheln. An der gegenüberliegenden Wand kauerte eine Gestalt in einem langen Nachthemd. Dorjan. Er war schweißbedeckt, und seine tief liegenden Augen blickten ins Leere, als könnte er sie nicht sehen. Wie war es ihm gelungen, das Siegel von Ellowen Renaiya zu durchbrechen? In der Burg wurde streng auf die Trennung der Geschlechter während der Nacht geachtet. Trotzdem war Dorjan hier in ihrem Zimmer, obwohl es noch nicht einmal dämmerte.
„Danke", sagte Sara. Er antwortete nicht Sie kroch in ihr Bett, und als sie wieder zu der Wand sah, wo Dorjan gekauert hatte, war er verschwunden. Sie warf ihre verkrumpelten Decken zurück und sah sich suchend um. Selbst unter dem Bett sah sie nach. Er war fort. Das Fenster war viel zu schmal für Dorjan. Sara begriff nicht, wohin er gegangen sein konnte. Sie trat in den Flur hinaus. Der Weg zum Ausgang wurde von einigen wenigen Internen beleuchtet. Außer dem Klang ihrer eigenen, hastigen Schritte war alles still. Sie rüttelte an der Eingangstür. Das Siegel hielt Als sie wieder in ihrem Bett lag, zog sie die Decken fest über sich und starrte in das Mondlicht. War es nur Einbildung gewesen, dass Dorjan in ihrem Zimmer gewesen war?
Sie erinnerte sich an die Unterrichtsstunde mit Ellowen Desak vom Nachmittag. „Wer nur nach dem sucht, was er schon weiß, dem entgehen die wichtigsten Erkenntnisse." Sara fand Desak wichtigtuerisch und langweilig und bezweifelte, dass er in den letzten fünfzig Jahren auch nur eine neue Erkenntnis gehabt hatte. Ganz im Gegensatz zu Ellowen Mayn, den sie sehr interessant fand. Schlaflos lag sie in ihrem Bett und schaute auf die Stelle, wo Dorjan gekauert hatte.
Sara bewegte sich zwischen Wachen und Schlafen. Immer wenn sie kurz davor war einzuschlafen, spürte sie den schwarzen Vögel, der auf sie wartete, und öffnete wieder die Augen. Als die Morgenglocke ertönte, hatte sie Mühe aufzustehen und sich anzuziehen. Sie versuchte lang, ihr Haar zu einem Zopf zu flechten, und sah im Spiegel, dass es ihr wieder nicht gelungen war. An der Tür zum Speisesaal stand Dra Jem. Er begrüßte sie und ermahnte sie, dass niemand den Saal betreten dürfe, wenn das Mahl schon begonnen habe. Sara folgte ihm in die Küche, wo er ihr ein Stück Brot, etwas Butter und einen Becher Wasser gab. „Nachher kannst du mit den anderen Schülern in die Halle der Kräuterkunde gehen", sagte er und zeigte nach draußen. Sara stopfte sich Brot und Butter in den Mund, ging zur Kräuterhalle und wartete. Bald kamen die anderen Schüler, die Mädchen mit fest geflochtenen Zöpfen. Dorjan setzte sich neben sie an einen der hinteren Tische. Bern war nicht zu sehen.
Sie beugte sich zu Dorjan. „Was ist letzte Nacht geschehen?", flüsterte sie. „Ich weiß nicht", flüsterte er zurück. „Aber du warst..."
Sara unterbrach sich, weil die Lehrerin hereinkam. „Für die, die mich noch nicht kennen, ich bin Lowen Camber. Kräuterheilerin." Die Stimme der Frau war so rau, dass Sara sich nicht gewundert hätte, wenn sie Kieselsteine ausgespuckt hätte, als sie sich räusperte. Ihr Lowengewand sah aus wie eine über eine Hecke gebreitete Plane. Als sie in die Hände klatschte, klang es, als würden Steine aufeinander schlagen. „Alle Schüler, auch die Novizen, gehen heute mit mir in den Wald", sagte sie. „Wer noch kein Kräuterbuch hat, kommt zu mir."
Sara sah zu Dorjan. Er zuckte die Achseln. Dann standen beide auf und gingen nach vorn. Lowen Camber gab jedem von ihnen ein in Leder gebundenes, armdickes Buch mit abgestoßenen Ecken. „Heute Vormittag sammeln wir Kräuter", sagte sie zur Klasse gewandt. „Aber ich habe nicht die Gabe der Kräuterkundigen", sagte Sara, „ich weiß gar nicht, wonach ich suchen
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