Die Vogelfrau - Roman
wüssten, was ich schon alles gesehen habe. Nein, mich kann niemand unter Druck setzen. Ich mache hier meine Arbeit und ich versuche sie so gut wie möglich zu machen. Ich verstehe sicher mehr von Obduktionen als so mancher von diesen studierten jungen Schnöseln, das können Sie mir glauben.«
Binder ließ offen, ob er auch Zumkeller zu den jungen Schnöseln zählte.
»Nun Herr Kommissar, sind Sie klüger geworden?« Zumkellers Stimme klang so kühl wie die geflieste Umgebung. Er hatte sich eine gelblichweiße Gummischürze umgebunden und schritt in dunkelblauen Vollgummi-Clogs lautlos über den gekachelten Boden. In der Mitte des Raumes befand sich ein Abfluss aus Edelstahl. Alles war klinisch sauber. Wie ein Schlachthaus, dachte der Kommissar. Oder wie ein Operationssaal. Er konnte den Blick nicht von den Clogs des Professors wenden. Sie waren mindestens zwei Nummern zu groß.
»Nein, klüger bin ich nicht. Dafür verstehe ich, ehrlich gesagt, zu wenig von diesen Dingen. Aber ich hätte schon noch ein paar Fragen.«
»Nur zu, mein Lieber. Nur zu.«
Ich bin nicht dein Lieber, dachte der Kommissar. Und werde es vermutlich nie sein. Die Gummischürze war alt und an den Rändern abgestoßen. Aber auch sie schien einwandfrei sauber zu sein.
»Wie lange ist die Mumie jetzt bei Ihnen in der Gerichtsmedizin, Herr Professor?«
»Bitte vermeiden Sie doch das Wort Gerichtsmedizin.« Zumkeller klang so, als habe er diesen Satz bereits sehr oft gesagt. »Seit zehn Jahren nennen wir uns Rechtsmedizin. Gerichtsmedizin – dieser Begriff ist etwas für Laien oder für die Sensationspresse. Wir sind ein seriöser Zweig der Medizin, auch wenn wir häufig als Schmuddelkinder gelten. Wir stehen immer und ausschließlich auf der Seite des Rechts. Deshalb muss ich unbedingt auf dem Begriff der Rechtsmedizin bestehen, Herr Kommissar.«
»Verzeihen Sie, Herr Professor Zumkeller, aber ich glaube, da bin ich altmodisch. In meinem Alter lernt man nicht mehr so schnell dazu. Für mich bleibt das hier eben die Gerichtsmedizin. Nichts für ungut.«
Falls Zumkeller ärgerlich war, dann hatte er seine Gesichtszüge bemerkenswert gut unter Kontrolle.
»Gehen wir hoch in mein Büro«, meinte er. »Dort ist es wärmer.«
11. Kapitel
Als Kommissar Bloch sich auf den Rückweg machte, waren die Straßen schon wieder frei. Der Abendverkehr war längst vorbei. Seine Fragen waren jedoch noch immer offen, obwohl Zumkeller fast zwei Stunden mit geschliffener Rhetorik auf ihn eingeredet hatte.
Vielleicht war nicht Binder unter Druck gesetzt worden, sondern Professor Zumkeller?
Was hatte Hoffmann ihm an dem besagten Abend mitgeteilt?
Cenk war jedenfalls nicht mehr im Büro. Cenk hatte auch ein Privatleben. Oder war etwa auch er dienstlich unterwegs an diesem herbstlichen Abend? Fade Nebelschleier legten sich über die Autobahn. Winterthur. Kommissar Blochs Handy hatte keinen Empfang. Er musste vom Gas runter. Es wäre ein schlechter Witz, auf der Heimfahrt in eine Radarfalle der Schweizer Kollegen hineinzufahren.
Cenk sah das wesentlich lockerer. Er besaß extra für solche Angelegenheiten eine Kasse, aus der er die zahlreichen Strafzettel bezahlte, die er im Laufe eines Monats wegen falschen Parkens und Geschwindigkeitsübertretungen erhielt. ›Was soll ich mich aufregen? Ich bin doch kein Verkehrspolizist‹, sagte er normalerweise mit breitem Grinsen. ›Und solange ich niemanden totfahre, brauchen die Kollegen von der Mordkommission ja auch nicht gegen mich zu ermitteln, oder?‹
Kommissar Bloch enthielt sich jeglichen Kommentars.
Die Abfahrt Richtung Schaffhausen. Das Licht der entgegenkommenden Fahrzeuge wurde immer diffuser. Den Mittelstreifen schluckte eine dichte Nebelbank. Die Straße wurde schmaler. Die Grenze rückte näher. Blochs Handy hatte immer noch keinen Empfang.
Irgendwo hatte er noch Kleingeld. Euro. In der Schweiz nahmen die Telefonzellen keine Euromünzen an. In der Schweiz hießen die Telefonzellen Kabinen. Am Zoll würde es sicher eine Möglichkeit zum Telefonieren geben.
Der Grenzübergang. Thayngen. Grellrote Rücklichter tauchten aus dem Nebel auf. Bloch fuhr langsam auf das Ende der Autoschlange zu. Der Grenzübergang sah aus wie alle anderen größeren Grenzübergänge in der Schweiz. Er war hell erleuchtet. Ein äußerst ineffektives Bollwerk gegen Drogen- und Menschenschmuggel, da die erfolgträchtigsten Transportrouten dieses prosperierenden Wirtschaftszweiges mittlerweile fast ausschließlich über die
Weitere Kostenlose Bücher