Die Vogelfrau - Roman
anderen, denn mir ist sehr kalt. Früher sagte Vater, dass man sich erkältet, wenn man zu lange mit kalten Füßen herumläuft. Wenn ich das Ritual abgeschlossen habe, werde ich nie mehr krank sein. Ich gleite im Mondlicht die Treppe hinunter. Dieser Ausdruck gefällt mir gut. Als ich noch ein kleines Mädchen war, habe ich mir manchmal vorgestellt, ich wäre eine Fee und könnte durch die Luft gleiten. Genauso mache ich es jetzt auf meinem Weg nach unten. Genau so.
Im Wohnzimmer ist alles still und dunkel. Ich höre den Atem von Adler und von Topsannah. Sie schlafen schon. Morgen werden sie bereits vor Sonnenaufgang aufstehen, um zu meditieren. Ich bin ganz leise.
Die Küchentür ist nur angelehnt. Ich finde den Kanister mit einem Griff. Er ist sehr schwer. Auf der Spüle steht eine Tonschale, die werde ich zum Trinken nehmen. Ich balanciere den Kanister in einer Hand und wuchte ihn nach oben. Alles ist schwerer geworden. Ich bekomme den Verschluss nicht auf. Meine Hände schmerzen vom vergeblichen Drehen an dem scharfkantigen Plastikteil. Gerade, als es sich lockert, rutscht mir der Kanister aus den Händen. Ich fange ihn auf, bevor er auf den Küchenboden knallt, aber das Wasser läuft aus. Es läuft über meine Beine, meine Füße stehen in einer Pfütze und es gelingt mir erst nach einer quälend langen Weile, den Kanister wieder nach oben zu heben. Er ist jetzt deutlich leichter geworden. Es ist nur noch ganz wenig Wasser darin. Ich habe das kostbare Wasser auf den Boden geschüttet. Ich habe Angst, dass der Meister etwas hört, dass er mich strafen wird. Ich habe Angst, dass er Topsannah anschreit. Ganz sicher wird er sie anschreien. Ich zittere – aber nicht vor Kälte. Auf einmal ist mir heiß. Ich muss die Schweinerei aufwischen. Liegt hier nicht irgendwo ein Lappen herum? Ich finde keinen Lappen, absolut nichts. Mit meinen bloßen Händen versuche ich das Wasser in der Küche zu verteilen, damit es vielleicht bis morgen früh eingetrocknet und verdunstet ist. Wenn sie mich fragen, sage ich einfach, ich wollte ihnen eine Freude machen und die Küche putzen. Das werde ich tun. Aber werden sie mir glauben? Ich nehme die Decke von meinen Schultern und versuche damit das Wasser aufzunehmen. Die Decke ist zu unhandlich. Ich rutsche auf dem glitschigen Boden aus, aber ich darf nicht hinfallen. Ich darf keinen Lärm machen. Sie dürfen nicht wach werden. Ich muss verschwinden. Er wird mich sonst strafen.
Leise. Ich muss leise sein. Es sind nur wenige Schritte bis zur Haustür. Der Adler droht abflugbereit über der Wohnzimmertür. Der Meister schnarcht. Vorsichtig drücke ich die Türklinke hinunter. Die Tür ist verschlossen. Ich komme nicht raus.
13. Kapitel
Zehn Uhr abends. Eigentlich hätte Kommissar Bloch jetzt nach Hause fahren können. Er hätte auch nicht erklären können, warum er den Wagen wieder zum Polizeipräsidium lenkte. Im kiesbestreuten Innenhof zwischen Polizeipräsidium und Archäologischem Landesmuseum erschien der Nebel weniger dicht. Bloch schaute hinauf zum zweiten Stock der ehemaligen Klosteranlage. In diesem Gebäudetrakt lag Cenks Büro. Alles war dunkel.
Im Landesmuseum hingegen brannte noch Licht. Der Kommissar zählte die Fenster. Offensichtlich war Professor Gräber noch im Büro. Ob er zu dieser späten Stunde noch ins Museum hineinkam, ohne dass der Professor ihn bemerkte? Es war zumindest einen Versuch wert.
Bloch stieg aus.
Als er sich dem Eingangsbereich näherte, flammte eine Reihe schmaler Lichter auf. Es waren bleiche Leuchtstoffröhren, die ein kaltes Licht in den Nebel hineinbissen. Es wies ihm kaum den Weg. Hinter der großen Glastür, im Windfang des Museums, lag ein Schäferhund. Das Tier hob den kantigen Schädel und zeigte in einer Art gelangweilter Routine die blanken Zähne. Der Hund hielt es nicht einmal für notwendig zu bellen und diese Show abzuziehen, die Wachhunde in der Regel vorführten, dieses Gegen-die-Tür-Springen, das Knurren, Bellen und Nackenhaare-Sträuben. Dieser Schäferhund war zu gut trainiert und zu erfahren, um seine Kräfte zu vergeuden. Er zeigte lediglich, dass er bewaffnet und aufmerksam war. Normalerweise reichte dies vollkommen. Der Kommissar sprach einige freundliche, nichtssagende Worte durch die Glastür.
Eigentlich mochte er Hunde recht gern. Wenn sie gut erzogen waren, störten sie nicht durch überflüssiges Geschwätz und taten ihre Arbeit effektiver als die meisten Menschen. Mit den Spür- und Schutzhunden im Team kam er
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