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Die Vogelfrau - Roman

Die Vogelfrau - Roman

Titel: Die Vogelfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Blatter
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noch tiefer über Blochs Hand. Ihre Finger waren kalt und hart, ihr Griff, obwohl nicht besonders kräftig, wirkte dennoch wie eine unnachgiebige Klammer. »Hier, Mitte 20, da war eine schwere Krise – oder ein Verlust.« Topsannah konnte aus Händen lesen wie Archäologen aus Tonscherben. Mit 26 Jahren hatte er Brigitte verlassen.
    Topsannahs Stimme gönnte ihm keine Pause zum Nachdenken. »Und danach wird die Linie ganz dünn, ja sie verschwindet fast. Man könnte sagen ...« Sie sah auf und schaute Bloch direkt in die Augen. Ihr Blick war völlig ausdruckslos. Sie las nur das ab, was Bloch selber in seine Hände hineingeschrieben hatte. Topsannah traf keine Schuld an dem, was da stand.
    »Man könnte sagen, Sie haben Ihr ganzes Leben lang an einer chronischen, auszehrenden Krankheit gelitten. Ihnen wurde aus irgendeinem Grund, den Sie wahrscheinlich besser kennen als ich, ständig Ihre Lebenskraft entzogen. Etwas ganz Wichtiges fehlt Ihnen seit vielen Jahren.«
    Ich weiß, was es ist, dachte Bloch. Ich weiß, was mir fehlt. Hoffentlich sagt sie jetzt nichts zur Herzlinie.
    Ein Hundeleben war das.
    Topsannah schwieg zur Herzlinie. Ihr Zeigefinger wanderte mit zarten, wischenden Bewegungen bis zu seinem Handgelenk. Blieb dort liegen, wo es hart und hastig klopfte.
    »Die Zukunft«, fragte sie leise. »Willst du deine Zukunft wissen?«
    Bloch entzog ihr seine Hand.
    »Mich würde viel mehr interessieren, Frau Adler«, sagte er mit rauer Stimme, »was in Ihrer Schicksalslinie geschrieben steht.«
    Cenk erhob sich. »Ich weiß nicht, wie es euch geht«, meinte er. »Aber ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee.«
    Es gab eine kurze Unterbrechung. Topsannah trank nur wenig Wasser mit kleinen vorsichtigen Schlucken. »Ich bin es nicht mehr gewohnt«, sagte sie entschuldigend. »Normalerweise trinke ich kein totes Wasser aus der Leitung, müssen Sie wissen.«
    Totes Wasser, lebendiges Wasser, was für ein Unsinn, dachte Bloch und erinnerte sich mit Schaudern an die undefinierbaren Partikel im Trinkgefäß, das ihm Topsannah damals im Haus angeboten hatte.
    Topsannah vertiefte sich wieder in die Lektüre ihrer Handinnenfläche. »Es sind zwei«, sagte sie zögernd. Ihre Stimme wurde zum Flüstern.
    »Was meinen Sie mit zwei, Frau Adler?« Auch Bloch dämpfte unwillkürlich seine Stimme. Das Surren des Aufnahmegerätes war auf einmal deutlich hörbar.
    »Zwei Linien. Es sind zwei Linien, die sich umeinander winden. Es sieht aus wie ein geflochtener Zopf und ich weiß genau, es ist meine eigene Linie und die meiner Tochter. Hier sehen Sie ...« Ihr Finger verweilte an einer bestimmten Stelle. »Ab hier sind es zwei Linien. Da war ich Anfang 20. Da ist sie auf diese Welt gekommen. Damals hat sie ihren sterblichen Körper erhalten.«
    »Wo ist Ihre Tochter, Frau Adler?«
    Topsannah blickte auf. Ihre Augen waren tiefe, schwarze Löcher.
    »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Wenn ich es doch nur wüsste. Es ist so, als ob mir jeden Tag bei lebendigem Leib ein Stück Fleisch herausgeschnitten würde. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Hier.« Wieder wanderte ihr Finger an eine bestimmte Stelle.
    Bloch beugte sich über ihre Hand, als könne auch er etwas erkennen. Es war aber vielmehr so, dass er einen möglichst unauffälligen Weg suchte, seinen Blick zu verbergen. Seine Augen hätten ihn verraten. Diese Frau sah zu viel.
    »Hier kommt der Bruch, sehen Sie nur, ein brutaler Abbruch – oder ein Riss. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Hier trennen sich unsere Linien. Aber sie trennen sich nur, das sieht man doch, es verschwindet keine der Linien. Sie trennen sich nur und hier ...« Ihr Finger glitt weiter in Richtung Handgelenk. »Hier vereinigen sie sich wieder. Es ist also nur eine vorübergehende Trennung – ich werde sie wiedersehen. Er hat es mir ganz fest versprochen.«
    »Wer?«
    »Der Meister. Er sagte, dass sie eine unbestimmte Zeit lang zwischen Himmel und Erde verbringen muss, um sich ihrer verunreinigten, sterblichen Hülle zu entledigen. Wenn sie zurückkehrt, wird sie ein überirdisches Kleid tragen. Ihre Seele wird sich nach außen gekehrt haben. Ach, wie soll ich Ihnen das nur erklären? Sie verstehen ja nichts von unserem Glauben. Man kann das nicht zusammenfassen.«
    »Könnten Sie es wenigstens versuchen, Frau Adler?«, bat Bloch. »Vielleicht können wir Ihnen oder Ihrer Tochter ja in irgendeiner Weise helfen!«
    Wohin führte ihn dieses Gespräch? Cenk, sag was, dachte er. Nein, sag lieber

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