Die Vogelkoenigin
sie Patienten und Klinikpersonal, aber niemand achtete weiter auf sie, alle waren viel zu sehr beschäftigt. Noch war die Kleidung nicht allzu merkwürdig, als Rokoko-Dame wäre sie sehr viel auffälliger gewesen.
Dort war der Lift. Sie drückte den Knopf, auf dem ganz groß »Ausgang« stand, und kurz darauf marschierte sie hoch erhobenen Hauptes und ganz selbstverständlich an der Pförtnerstelle vorbei hinaus ins Freie. Sie hätte den Pförtner sogar gegrüßt, wenn er da gewesen wäre.
Draußen und frei. Laura atmete auf. Ein bisschen tat ihr Dr. Winter leid, aber im Grunde hatte sie ihnen beiden einen Gefallen getan. Er hatte keinen Papierkram mehr, der Fall der verschwundenen Patientin würde nicht lange verfolgt werden, und die seltsamen Untersuchungsergebnisse würden in einem Archiv im Keller landen, bildlich übertragen auch auf die elektronische Speicherung.
Bei den Temperaturen hielt die Jacke ganz gut, und Laura fühlte sich nicht mehr krank und fiebrig. Sie würde den Tag überstehen, und bis zum Abend musste sie eben eine Lösung finden, wo sie übernachtete und wo sie jemanden finden konnte, der sie nach Innistìr zurückbrachte. An jenen Ort, an den man eigentlich nicht gelangen konnte und noch weniger wieder hinaus.
Sie schlug den Weg zur Isar hinunter ein. Dort konnte sie in den Grünanlagen spazieren gehen, einen Blick auf die Praterinsel werfen und nachdenken.
Das Gehen hielt sie einigermaßen warm, und trainiert war sie inzwischen so gut, dass ihr der Fußmarsch nichts ausmachte. Sie lächelte, als sie die Maximiliananlagen nicht weit vom Bayerischen Landtag entfernt erreichte und eine Ahnung des Flusses bekam, an dessen Ufern sie viele lustige Studentenpartys mitgefeiert hatte. Und wenn dann die Polizei kam, die Beine in die Hände zu nehmen und abzuhauen, erst recht, wenn sie ein Feuerwerk abgebrannt hatten.
Es war so früh, dass nicht viele Leute unterwegs waren - zu dieser Jahreszeit sowieso nicht. Deshalb sprang Laura sofort das elegante Paar ins Auge, das gemütlich Arm in Arm dahinspazierte.
Die Frau war ungefähr gleich groß wie Laura, vielleicht um eine Winzigkeit kleiner. Sie besaß wallendes schwarzes Haar und eine unglaublich weibliche Figur mit allen wichtigen Rundungen wie auf einem Idealbild ausgeprägt, mit einer schmalen Taille. Sie trug ein rotes Kleid unter dem offenen Wintermantel. Ihre Lippen waren korallenrot, die tief liegenden Augen dunkel und feurig.
Der Mann an ihrer Seite war um die einsachtzig groß und schlank, trug einen Dreitagebart, hatte widerspenstig gelocktes dunkelblondes Haar. Seine bleiche Haut betonte seine blauen Augen. Er trug schwarze Kleidung, die man bei einem Mann seines Typs gar nicht erwartet hätte, doch irgendetwas war an ihm, was sie passend zu ihm machte.
Laura blieb stehen; normalerweise gaffte sie nicht, aber die beiden ließen sie nicht los. Was war es, das sie so anzog? Gewiss, sie sahen gut aus, schienen Geld wie Heu zu haben bei diesen auserwählten Klamotten, die sie mit lässiger Selbstverständlichkeit trugen. Aber solche Leute gab es in München viele, und die hatten Laura nie interessiert.
Doch etwas stimmte nicht.
Als die Frau redete, stieß sie bei genauem Hinsehen im Sonnenlicht sichtbare feine Atemwölkchen aus. Die Plusgrade reichten noch nicht ganz aus, um über dreißig Grad warme Luft spurlos aufzunehmen. Das zu sehen war einerseits beruhigend. Der Schatten, den sie hinter sich herzog, passte irgendwie nicht so recht zu ihr, und Laura erschien er ein wenig zu ... diffus. Bei dieser intensiven Sonne hätte er kräftig sein müssen, klar gezeichnet, doch er war eher verschwimmend.
»Sie hat ihn angeheftet ...«, flüsterte Laura. »Sie ist eine Elfe ...«
Einem normalen Menschen wäre das überhaupt nicht aufgefallen, weil er nicht darauf geachtet hätte. Warum auch, ein Schatten war etwas völlig Selbstverständliches, ständig und immer da, über das niemand nachdachte. Aber Laura war kein normaler Mensch mehr. Ihr Blick hatte sich für die Anderswelt geöffnet.
Cedric hatte es ihr erklärt, als sie in Cuan Bé, dem geheimen Sitz der Iolair, nach seiner Offenbarung von ihm wissen wollte, wieso er nie aufgeflogen wäre. »Die meisten Menschen haben kein Auge dafür. Sie wollen es gar nicht sehen, deswegen nehmen sie uns nicht wahr als die, die wir sind. Diese Vorstellung liegt außerhalb dessen, was sie gewohnt sind, und gehört nicht ins normale Bild. Ihr habt sogar einen Fachbegriff dafür: selektive
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