Die Voliere (German Edition)
beim besten Willen nicht zu sagen vermocht.
»Hören Sie mich, Martinez? Sind Sie bei Bewusstsein?«
Vielleicht war da ein leichtes Stöhnen gewesen. Oder eines der vielfach überlagerten Geräusche, die der Wind erzeugte. Erneut riss sie am Türgriff – keine Chance. Von irgendwoher musste sie etwas auftreiben, um die Tür aufzubrechen. Sie konnte Martinez unmöglich im Wagen liegen lassen.
Nora rannte zum Haus. Im Stall trieb sie einen Spaten auf, an dem noch jahrzehntealter Mist haftete. Zurück beim Auto, schob sie das Blatt des Spatens in die Ritze zwischen Tür und Rahmen und versuchte, die Tür aufzuhebeln. Das Metall knirschte, ein klein wenig lockerte sich die Öffnung sogar, aber das Schloss hielt stand. Schließlich hörte sie auf zu zählen, wie oft sie sich gegen den Griff des Spatens geworfen hatte. Es war sinnlos.
Sie lehnte sich erschöpft an den Wagen und fluchte laut.
»Frau Doktor?«
Zu Tode erschrocken fuhr sie herum. Direkt hinter ihr stand Rosen, die nassen Haare klebten ihm am Kopf, durch die Rinnsale, die sein Gesicht hinunterliefen, blinzelte er sie an.
»Ich bin aufgewacht, weil ich aufs Klo musste. Aber ich kann die Hose nicht alleine aufmachen. Im Haus wollte ich niemanden wecken.«
Seine Hände waren unverändert auf dem Rücken zusammengebunden. Nora überlegte kurz, ob sie es wagen konnte, ihn loszumachen. »Sie sind mit dem Messer auf uns losgegangen. Ich weiß nicht, ob ich mich wohlfühle, wenn Sie die Hände wieder frei haben.«
»Entschuldigung.« Rosen flüsterte dieses eine Wort so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte, und dabei sah er zu Boden. Seine Körperhaltung zeugte davon, dass er es ehrlich meinte. Nora musste nicht lange überlegen, ob sie es sich verzeihen könnte, den Kollegen im Wagen sterben zu lassen, weil sie vor Rosen Angst gehabt hatte.
Die Kabelbinder ließen sich nicht mit bloßen Händen öffnen, dafür benötigte sie eine Schere oder etwas Ähnliches. Nora hantierte an der Kofferraumklappe, aber die ließ sich ebenso wenig öffnen wie die Türen. Der Spaten löste schließlich auch dieses Problem. Mit der Zange, die sich im Täschchen mit Notwerkzeug befand, knipste sie schließlich die Fesseln durch. Rosen verrichtete im Regen sein Geschäft an einem Baum, dann nahm er ihr den Spaten ab und hebelte an der Tür. Mit einem Knacken löste sich die Sperre, die Tür bewegte sich ein paar Zentimeter. Unter Einsatz all seiner Kraft bog Rosen die Tür auf. Zu zweit hievten sie Martinez behutsam aus dem Wagen, die Füße voran, was am einfachsten war. Schließlich hob Rosen den Verletzten hoch und trug ihn zum Haus.
Er brachte ihn die Treppe hinauf, drückte die Klinke seiner Zimmertür herunter und legte den Mann auf das Bett. Nora öffnete vorsichtig Martinez’ Jacke, zog ihm Hose und Schuhe aus und deckte ihn zu. Nach wie vor war der Mann nicht ansprechbar und bleich wie der Tod, doch immerhin atmete er.
Nora hängte das Pistolenholster über die Stuhllehne. Es war leer. Vorsichtig sah sie sich nach Rosen um, der in seinem Kleiderschrank kramte. Hatte er die Waffe an sich genommen? Nein, vermutlich war das Holster aufgerissen, als Rosen den Mann aus dem Wagen gezogen hatte. Die Waffe musste irgendwo im Fußraum liegen. Sobald der Sturm nachgelassen hatte, würde sie sie sicherstellen.
*
Einige Minuten lang ertönte das Freizeichen, es klickte, dann erfolgte das Besetztzeichen der Rettungsleitstelle. Das gleiche Ergebnis beim nächsten Versuch und beim übernächsten. Nora beobachtete den Sturm, der unvermindert wütete; immer wieder krachte etwas gegen die Hauswand. Kurz nachdem sie den Polizisten aus dem Auto geborgen hatten, hatte ein weiterer ohrenbetäubender Knall den Wald ringsum erschüttert, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag. Wie es aussah, hatte der orkanartige Sturm Geschmack daran gefunden, Bäume zu entwurzeln.
In einer Nacht wie dieser war es kaum verwunderlich, dass die Telefonleitungen überlastet waren. Als einzige Lösung blieb, es unverdrossen weiter zu probieren. Nach dem gefühlten hundertsten Anruf gab ihr Handy einen Warnton von sich: Der Ladestandsanzeiger war auf einen von fünf Balken geschrumpft. Lange würde der Saft nicht mehr reichen. Und ein Ladegerät hatte Nora, die nur eine Einladung zum Abendessen angenommen hatte, nicht bei sich. Eines von der Sorte, die an den Zigarettenanzünder angeschlossen wurden, befand sich im Handschuhfach des Minis. Aber der Wagen stand auf der anderen Seite des umgestürzten
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