Die Voliere (German Edition)
Nora von ihm sah.
»Dummerweise ist Ihre Dienstwaffe noch da drinnen«, sagte Tibursky zu dem Polizisten, der sich die verletzte Hand hielt, während das Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll.
»Hier stehen zu bleiben und zu warten, bis er durch die Tür schießt, ist nicht weniger dämlich«, konterte Nora und trat einen Schritt zur Seite. Die Männer beeilten sich, ihrem Beispiel zu folgen.
Der Polizist hockte sich auf den Boden, lehnte den Rücken an die Wohnzimmerwand und hielt sich stöhnend die Hand. Blut tropfte zu Boden, er war bleich im Gesicht, vielleicht hatte er einen Schock. Nora kniete sich hin, hob seinen Arm ein wenig an und presste die Hand gegen die Arterie im Oberarm, um die Blutung zu stoppen. Sie suchte ein Taschentuch – verdammt: Ihre Handtasche befand sich ebenfalls im Esszimmer, mitsamt Autoschlüssel, Handy und Pfefferspray.
»Gibt es im Haus einen Verbandskasten?«
Lefeber eilte ins Obergeschoss – im Badezimmer hing ein Medikamentenschrank.
»Was machen wir jetzt?«, presste der Verletzte hervor und sog – ein Zeichen des Schmerzes – zischend die Luft ein.
»Wir warten, bis Rosen sich beruhigt hat oder ins diabetische Koma fällt. Dann überwältigen wir ihn und holen die Waffe.«
»Und wenn er sie an sich nimmt? Und damit aus dem Fenster steigt?« Der Kollege bemühte sich, leise zu sprechen, damit Tibursky nichts von ihren Überlegungen mitbekam.
»Darüber zerbreche ich mir erst dann den Kopf, wenn er vor mir steht«, sagte Nora. Lefeber kehrte mit dem Verbandskasten zurück und Nora überließ ihm die Versorgung des Verletzten.
»Wo wollen Sie hin?«, wollte der zweite Kollege wissen, der soeben von draußen hereingekommen war und nun verwirrt im Flur stand.
Nora antwortete nicht, sondern eilte durch die Haustür, bog links um die Ecke und folgte der Hauswand bis zum Esszimmerfenster. Vorsichtig spähte sie durch das zerbrochene Glas. Rosen lag zusammengerollt wie ein Embryo auf dem Teppich, die Hände unter dem Ohr zu einer Art Kissen gefaltet, und schlief.
*
Mit vorgehaltener Waffe hatten sie Rosen die Hände hinter dem Rücken mit Kabelbindern fixiert, nachdem sie ihn im Schlaf überwältigt hatten.
Jetzt saß er auf einem Stuhl am Esstisch. Nora hatte ihm nach seinen Anweisungen den Blutzucker gemessen und Insulin injiziert. Nun fielen ihm vor Müdigkeit immer wieder die Augen zu, irgendwann ruhte sein massiger Oberkörper auf der Tischplatte, sein Rücken hob und senkte sich rhythmisch. Er schnarchte.
Die Waffe steckte wieder im Holster des verletzten Polizisten. Seine Hand war mit einem Druckverband versorgt und man hatte ihm Schmerzmittel verabreicht. Auch er schien zu schlafen.
Die Kaffeemaschine und ein paar Tassen hatten Rosens Tobsuchtsanfall überlebt, also hatte Lefeber in seinem zerknitterten Anzug Kaffee gekocht und war dann zu Bett gegangen. Auch Tibursky wünschte eine gute Nacht und verzog sich ins Obergeschoss, kurze Zeit später hörten sie ihn hinter der verschlossenen Badezimmertür hantieren. Nun standen Nora und der zweite Polizist mit dem Namen Martinez im Flur, nippten an ihren Tassen und flüsterten miteinander.
»Und Sie haben nichts gesehen? Niemanden, der zum Haus gefahren oder mit der Taschenlampe durch den Wald gegangen ist?«
Der Polizist schüttelte den Kopf. »Wir haben ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass um diese Uhrzeit und bei diesem Wetter jemand draußen unterwegs ist. Ganz davon abgesehen, sind wir eher für die Überwachung dieser Männer da als für ihren Schutz. Erst als Rosen herumgebrüllt hat, sind wir aufmerksam geworden.«
Nora sah auf die Uhr. Sie hatte dem Kollegen versprochen, so lange zu bleiben, bis die Verstärkung anrückte. »Wo bleiben die denn? Ich müsste längst auf dem Heimweg sein.«
»Ich gehe mal zum Wagen und frage nach.«
»Sind Sie sicher? Ich habe das Gefühl, der Sturm ist noch stärker geworden. An Ihrer Stelle würde ich lieber drinnen bleiben.«
»Mir fällt schon nicht der Himmel auf den Kopf«, scherzte er, brachte die Kaffeetasse in die verwüstete Küche und machte sich auf den Weg. In dem Moment, als er die Haustür hinter sich schloss, flackerte das Licht im Flur und in der Küche ein paar Mal auf, dann erlosch es komplett. Der Kühlschrank brummte noch einen Moment, bevor auch dieses Geräusch mit einem metallischen Scheppern erstarb.
»Na toll. Stromausfall«, sagte Nora in die Dunkelheit hinein. Wo zum Teufel hatte Lefeber die Taschenlampe deponiert?
*
Martinez
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