Die Voliere (German Edition)
kann, genügt, um ihm den Verstand zu rauben: blanker Knochen, Fleisch- und Sehnenfetzen, Federn, Blut. Er kann nicht erkennen, welche Farbe die Federn haben, die an dem Flügel hängen, aber das erübrigt sich auch. Denn sobald sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, tauchen fünf weitere Flügel vor ihm am Boden auf und direkt daneben die dazugehörigen Leiber.
Willi, Nero, Namenlos. Alle drei tot – nein, mehr als tot: zertrampelt wie verhasstes Spielzeug.
Grauen erfasst Rosen.
Er schreit, er macht seinem Schmerz Luft, bis ihm die Stimme versagt.
*
Lefeber, der irgendwo eine Taschenlampe aufgetrieben hatte, ging voraus. Die Batterie schwächelte, ein blassgelber Lichtkegel zitterte über den Boden vor ihnen. Nora hatte sich den Schürhaken vom Kachelofen gegriffen. Sie überquerten zu viert den Hof in Richtung Mühlengebäude, sich dem Sturm entgegenstemmend. Rosen stand in der Voliere, der Schrei, den man vor wenigen Sekunden noch im Haus vernommen hatte, vom Wind verschluckt. Von der Waldseite her näherten sich Lichter – die Kollegen vom MEK hatten seinen Ruf ebenfalls gehört und eilten zu Hilfe.
Drei Taschenlampen beleuchteten wie Theaterspots das Innere der Voliere.
Rosen kam mit blutbeschmierten Händen auf sie zu, Irrsinn im Blick.
Einer der Polizisten zog seine Waffe und richtete die Mündung auf Rosens Knie.
»Stehen bleiben, Herr Rosen!«, rief er.
»Nicht schießen!«, schrie Nora Winter.
»Willi!«, brüllte Rosen und stürmte an ihnen vorbei.
III
Ich wollte es nicht wahrhaben, was sie mir sagten,
aber es ist so. Sie haben mich mit Stiefeln getreten,
und es ist so, wie sie sagen: Ich fühle nicht wie sie.
Und ich habe keine Heimat.
Aus Andris Monolog in Andorra von Max Frisch
Die Hand des Polizisten zitterte, doch die Mündung seiner Pistole folgte beharrlich jeder von Rosens Bewegungen.
»Stecken Sie die Waffe ein, bevor noch ein Unglück passiert«, rief Nora durch den Sturm.
Der Kollege sah zuerst verstört, dann erleichtert aus und ließ die Waffe sinken.
Rosens breites Kreuz füllte die Eingangstür vollständig aus; bevor er im Inneren des Hauses verschwand, sah er sich einen Moment lang um. Er schien keinen der Anwesenden wahrzunehmen, sondern hatte den Blick in weite Ferne gerichtet, auf den Wald. Unmittelbar danach hörten sie Dinge zu Bruch gehen: Geschirr, Gläser, Holz, eine Fensterscheibe.
Nora und einer der beiden Polizisten rannten los, Lefeber und Tibursky klebten an ihren Fersen. Die Geräusche kamen aus dem Esszimmer, wo Rosen in einem Rausch der Gewalt die Einrichtung zerlegte. Mit einem Handgriff fegte er das wenige heil gebliebene Geschirr vom Tisch, Teller und Servierschüsseln krachten auf den Boden und zersprangen. Zwei Stühle hatte er bereits gegen die Wand geknallt, den nächsten hielt er wurfbereit über den Kopf.
Nora und ihr Kollege versuchten, Rosen zu bändigen, griffen nach seinen Armen, aber er schüttelte sie ab wie ein Hund Ungeziefer aus dem Fell.
Nora beschwor ihn, sich zu beruhigen, was Rosen mit einem irren Schrei quittierte.
Als ihr Kollege versuchte, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen, deutete jäh die Spitze des Tranchiermessers auf Noras Hals.
Der Polizist ließ von Rosen ab und zog mit fahrigen Bewegungen seine Dienstpistole aus dem Hüftholster.
»Warum können die uns nicht einfach in Ruhe lassen? Was haben wir denen denn getan?«, fuhr Rosen Nora an. Seine Stimme überschlug sich fast.
»Lassen Sie das Messer fallen, Herr Rosen!«, forderte Nora ihn auf.
»Sonst muss ich schießen«, fügte der Kollege unnötigerweise hinzu.
Mit einer Schnelligkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, vollführte Rosen eine Hundertachtziggraddrehung und verletzte den Polizisten mit dem Messer an der Schusshand, ob aus Absicht oder aus Versehen konnte später nicht mehr ermittelt werden. Die Pistole, die bislang nicht entsichert worden war, flog in hohem Bogen über den Tisch und schlitterte den Holzdielenboden entlang unter eine Vitrine. Doch Rosen interessierte sich nicht für die Waffe. Vielmehr wandte er sich wieder Nora zu: Mit offenem Mund und dem Messer in der Hand stand er da und überlegte, was nun zu tun sei.
»Raus da, schnell!«, hörte Nora Lefeber hinter sich schreien. Gemeinsam mit dem Polizisten wurde sie zur Esszimmertür gezerrt, während Rosen reglos auf dem Fleck verharrte, in Gedanken versunken. Lefeber schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel zwei Mal um. Rosens verdutztes Gesicht war das Letzte, was
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