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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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stemmte sich gegen den Sturm, riss die Wagentür auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Der Versuch, die Tür wieder zu schließen, wurde vom Wind zunächst vereitelt. Erst als der Polizist mit beiden Händen fest am Griff zerrte, gab sie nach und schnappte ins Schloss.
    Er schaltete das Funkgerät ein, doch es gab nur ein Rauschen von sich.
    »Zentrale, Nachtigall elf an Zentrale. Ich hatte Nullneunundzwanzig angefordert.«
    Keine Reaktion. Auch ein zweiter Versuch der Kontaktaufnahme blieb erfolglos, was vermutlich dem Unwetter geschuldet war. Die Digitaluhr am Armaturenbrett zeigte kurz nach zwölf. Martinez beschloss, sich einen Moment Ruhe zu gönnen und es in zehn Minuten noch einmal zu probieren.
    Er senkte die Rückenlehne des Fahrersitzes ein wenig ab und schloss die Augen. Um sich wach zu halten, schaltete er das Radio ein. Die Meteorologen hatten den Jahrhundertsturm inzwischen Cindy getauft und rieten den Menschen im gesamten Bundesland dringend, das Haus nicht zu verlassen. Umherfliegende Ziegel und umstürzende Bäume hätten bereits einen Menschen das Leben gekostet und einige mehr ins Krankenhaus gebracht. Der Moderator sprach ein paar einlullende Worte, dann spielte er – dem Motto des Tages entsprechend – Riders on the Storm von den Doors. Das Intro mit seinen E-Piano-Kaskaden und dem sirrenden Becken vermischte sich mit dem Brausen des Sturms.
    Innerhalb weniger Sekunden fiel der Polizist in einen unruhigen Schlaf.
    Fünfzehn Minuten später traf eine Böe der Windstärke neun eine achtzehn Meter hohe Eiche mit einem Stammumfang von mehr als fünf Metern. Der etwa vierhundert Jahre alte Baum, der wegen des vorangegangenen trockenen Sommers bereits stark geschwächt war, knickte um und stürzte polternd auf die Kabine des Einsatzwagens. Zwar wachte Martinez auf, als Geäst und Blätter auf das Fahrzeugdach und die Motorhaube krachten, doch hatte er keine Zeit mehr, den Wagen zu verlassen. Mit einem ohrenbetäubenden Lärm wurde die Decke mehr als einen Meter weit eingedrückt. Hätte der Polizist aufrecht gesessen, wäre er sofort tot gewesen. So jedoch presste das Autodach seinen Oberkörper nur wenige Zentimeter in den Sitz. In seinem Brustkorb knirschte es. Kurz bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er durch das Rauschen des Funkgeräts die Worte: »Zentrale an Nachtigall elf. Können Sie mich hören?«
    *
    Nora wurde unruhig. Der Kollege war schon vor über einer halben Stunde zum Wagen aufgebrochen, um nachzufragen, wo die angeforderte Verstärkung blieb. Draußen wütete das Unwetter. Und nach wie vor gab es keinen Strom im Haus.
    Im Innern der Schreckenmühle herrschte eine trügerische Ruhe. Rosen schnarchte durchdringend auf dem Esszimmertisch, und sogar der verletzte Kollege hatte vor einer Weile sein Stöhnen eingestellt und atmete gleichmäßig und tief.
    Zehn Minuten später riss ihr endgültig der Geduldsfaden. Sie hatte mittlerweile die Taschenlampe gefunden und öffnete die Haustür, um nach dem Rechten zu sehen. Sofort wirbelte nur wenige Zentimeter von ihrem Kopf entfernt ein leerer Eimer durch die Luft. Sie schlug die Tür wieder zu. Sich ohne Schutz draußen aufzuhalten, war reiner Selbstmord.
    Nora starrte durch ein Wohnzimmerfenster in die Finsternis hinaus. Falls der Kollege in seinem Wagen saß, hatte er die Innenbeleuchtung ausgeschaltet. Falls nicht – darüber wollte sie lieber gar nicht erst nachdenken.
    Weitere fünf Minuten vergingen. Da sie niemanden der Männer um Begleitschutz bitten konnte, fasste sie sich ein Herz und machte sich alleine auf den Weg. Sie musste sich gegen den Sturm lehnen, um nicht umgeworfen zu werden. Zum Wind war nun auch noch Regen gekommen, der Nadelstichen gleich ihr Gesicht peitschte, bis die Haut wie Feuer brannte. Nora folgte dem Zufahrtsweg.
    Als sie an die Stelle kam, an der die beiden Einsatzwagen geparkt waren, gaben ihr fast die Knie nach. Der dunkelblaue Opel Omega lag unter einem Baumstamm begraben. Das Dach befand sich ungefähr auf Brusthöhe, die Fahrertür war nach außen gebogen, Windschutzscheibe und Seitenfenster zersplittert. Wie es im Innern aussah, konnte sie nicht erkennen.
    Sie zog am Griff, aber die Tür rührte sich keinen Millimeter. Daran änderte auch wiederholtes Rütteln nichts. Sie schrie Martinez’ Namen, bekam aber keine Antwort.
    Wenn Nora sich anstrengte, konnte sie die Umrisse eines menschlichen Körpers ausmachen, direkt unter dem eingedrückten Dach. Aber ob der Mann noch atmete, hätte sie

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