Die Voliere (German Edition)
einem Zopf geflochten. Ein warmherziges Lächeln.
Schröder schloss die Tür und begab sich hinter den Schreibtisch, von wo aus er Nora mit einer Geste aufforderte, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Als er ihr Interesse an dem Foto gewahrte, erklärte er: »Meine Frau. Vor neun Jahren verstorben.«
Noch bevor Nora etwas erwidern konnte, fuhr Schröder fort. »Lefeber, Rosen und der kleine Heiratsschwindler Tibursky sollen also freigelassen werden.«
Interessant, die Amnesie des Professors war urplötzlich verschwunden, dachte Nora. Offenbar waren das nicht gerade Routinefälle gewesen. Oder er hatte ihren Besuch erwartet.
»Ich soll die Risikoprognose erstellen, Herr Schröder. Darum würde ich gern Ihre Einschätzung in diesen drei Fällen hören.«
»Wie gehen Sie vor? Nach ILRV oder statistischer Methode?«
»Weder noch. Ich bevorzuge das freie Interview.«
»Das freie Interview, soso.« Auf Schröders Gesicht erschien ein spöttisches Lächeln. »Haben Sie kein Vertrauen in die bereits angefertigten Gutachten?«
»Ich bilde mir meine Meinung lieber aus erster Hand.«
»Darf ich fragen, wie viele Gefährlichkeitsprognosen Sie bereits erstellt haben?«
Nora hatte nicht die geringste Lust, sich von Schröder vorführen zu lassen. »Herr Schröder, ich bin gekommen, um Ihre Meinung über die drei Sicherungsverwahrten zu hören, und nicht, um mich für meine Arbeitsweise zu rechtfertigen.«
»Wie alt sind Sie eigentlich, Frau Winter?«
Nora stand abrupt auf und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe, Herr Professor.«
Sie öffnete die Tür, schickte sich zum Gehen an. Die beiden Dobermänner, die ihnen ins Haus gefolgt waren, wandten ruckartig ihre Köpfe in Noras Richtung und begannen, leise zu knurren. Na toll. Seit sie in den ZPD gewechselt hatte, trug sie keine Dienstwaffe mehr. Doch Schröders Entschuldigung machte der heiklen Situation ein Ende.
»Tut mir leid, Frau Kollegin, das war eine«, ihr Gastgeber räusperte sich, »indiskrete Frage.«
Nora drehte sich um, Schröder deutete einladend auf den Besucherstuhl. Auf einmal wirkte er nicht mehr ganz so überheblich. »Vielleicht möchten Sie eine Tasse Kaffee? Oder einen Gin Tonic? Und dann fangen wir noch einmal ganz von vorne an. Wie Erwachsene.«
Nora nahm wieder Platz und atmete tief durch. »Ein Kaffee wäre nett.«
Schröder kehrte ein paar Augenblicke später mit einem Tablett zurück, auf dem sich eine Kaffeetasse und ein Cocktailglas befanden. Nora konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es mit Gin Tonic oder Sprudelwasser gefüllt war. Sie tranken schweigend, dann zog der Professor nach kurzer Suche drei Aktenordner aus dem Regal und legte sie auf den Tisch. Nach einem Moment des Nachdenkens öffnete er den Ordner, der mit 03/1992 und LEFEBER gekennzeichnet war.
»Ich habe von diesen Altfällen nur ein paar Schlüsseldokumente aufbewahrt.« Er vertiefte sich in den Inhalt, blätterte vor und wieder zurück, dann endlich nickte er. »Sexuell motivierter Sadismus. Stark progrediente Paraphilie. Ein Intelligenzquotient von hundertfünfundvierzig, seit 1990 Mitglied bei Mensa. «
Er öffnete den Verschluss und nahm ein einzelnes Blatt heraus, eine Kohlezeichnung. Nora betrachtete sie und verglich sie mit dem Original – Lefeber hatte ein perfektes Porträt des Gutachters gezeichnet.
»Eine ruhige Hand. Braucht man vermutlich auch, wenn man einen Heranwachsenden bei vollem Bewusstsein mit chirurgischer Präzision verstümmelt.« Schröder reichte ihr ein weiteres Blatt. Nach einem kurzen Blick auf das Tatortfoto mit den blutigen Details gab Nora es ihm zurück.
Der Professor verschränkte die Finger wie zum Gebet. »Was einen Mann wie Lefeber umtreibt, kann man nicht heilen. Und ich habe ernsthafte Zweifel, dass er diesen Trieb jemals hundertprozentig unter Kontrolle bringen kann. Verhaltenstherapie hin oder her.«
»Er hat sich einer Kastration unterzogen.«
»Hat er Ihnen das erzählt? Nein, Lefeber ist bei seiner Festnahme so schwer im Genitalbereich verletzt worden, dass man seine Hoden entfernen musste. Ironie des Schicksals, finden Sie nicht? Paria paribus respondere , wie Cicero sagte. Er wurde als Kastrat inhaftiert. Lefeber, nicht Cicero.«
Nora versuchte, sich zu erinnern. Hatte sie die Unterlagen falsch interpretiert? Oder hatte Lefeber sie in die Irre geführt?
»Er hat von sich aus so ziemlich alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die ihm angeboten wurden«, entgegnete sie. »Sein
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