Die Voliere (German Edition)
neuen Zweck zugeführt.
Rund um das Gelände hatte sich eine Menschenkette gebildet. Hunderte Anwohner hatten einander untergehakt, skandierten lautstark irgendwelche Parolen – entweder um die Kälte der Nacht zu vertreiben oder sich angesichts der anrückenden Polizei Mut zu machen. Letzteres schien unbegründet, denn Uniformierte sah man nur wenige, und sie schienen mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der Deeskalation der Situation. Die Augen der Demonstranten glänzten im Fackelschein. Sie waren von der Rechtmäßigkeit ihres Anliegens voll überzeugt.
Plötzlich beschlich Nora der Verdacht, dass man die Unterkunft der Männer inmitten einer engagierten Nachbarschaft mit voller Absicht gewählt hatte. Die Bewohner würden jeden Schritt von Lefeber, Rosen und Tibursky mit Argusaugen verfolgen. Die Überwachung würde daher ein Kinderspiel sein. Aber vielleicht sah sie schon Gespenster.
Als die Wagen anrollten, schwoll der Sprechgesang zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll an.
Wir sind Aussätzige. Niemand will uns in seiner Nähe haben. Lefebers Worte schwirrten in Noras Kopf herum.
Auf einmal gab es einen dumpfen Schlag, dann ein Klirren, Reifen quietschten, die Kamera wurde herumgerissen: Irgendetwas Hartes flog gegen die hintere Seitenscheibe eines der Busse. Das Geschoss, vielleicht ein Stein, prallte vom Sicherheitsglas ab, Risse durchzogen die Scheibe wie ein Spinnennetz.
Im Hintergrund hörte Nora das Johlen und Klatschen der Menge. Sie erwartete, dass die Polizei einen Kordon rund um die Wagenkolonne bilden würde. Aber nichts geschah. Vielmehr lief jemand mit einer Fackel vorbei; im Feuerschein, der vom Glasmosaik der gerissenen Scheibe hundertfach reflektiert wurde, war sein Gesicht zu einer Fratze verzerrt.
Nora sprang vom Sofa auf. Das war ja nicht auszuhalten. Sie konnte unmöglich tatenlos zusehen, wie die Situation aus dem Ruder lief. Unangekündigt vor dem Altersheim aufkreuzen und den Kollegen – die offensichtlich damit überfordert waren, ihre Schäfchen beieinanderzuhalten – ihre Hilfe aufdrängen wollte sie jedoch auch nicht.
Nora zog die Visitenkarte hervor, die Dr. Rauch ihr bei ihrem letzten Besuch überreicht und auf der Rückseite handschriftlich mit einer Handynummer ergänzt hatte. Das Telefon war abgeklemmt, aber ihr Handy funktionierte.
Rauch hob nach dem fünften Klingeln ab. Wenige Augenblicke später hatte Nora erfahren, dass die Situation noch viel schlimmer war, als sie sich im Fernsehen darstellte: Rosen hatte sich geweigert, das Altersheim zu betreten. Man konnte ihn nicht zwingen, dort Unterkunft zu nehmen, er war ab sofort ein freier Mann. In blinder Panik war er – sein Gepäck bei Dr. Rauch zurücklassend – davongelaufen, gefolgt von einem Tross Polizisten, die den Auftrag hatten, auf ihn achtzugeben.
Donnerstag, 31. Oktober
Begemann, der eine Fuhre petrochemischer Katalysatoren zu einer Chemiefabrik nach Wiesbaden brachte, entdeckte den Mann auf der A 66 bei Kilometer sechzehn. Offenbar hatte sich bisher niemand erboten, den Anhalter mitzunehmen. Der Mann war ein Hüne, wog mit Sicherheit mehr als hundert Kilo – der Vogelkäfig, mit einer Decke verhängt, sah wie ein Spielzeug in seinen Pranken aus.
Der Kerl nahm den Daumen herunter und setzte seinen Fußmarsch fort. Hatte er aufgegeben? Er maß jeden Schritt ab, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, wie ein Bergsteiger, der einen gefährlichen Gipfel bezwang und sich keinen Fehltritt leisten konnte, ohne einen tödlichen Sturz zu riskieren.
Vielleicht war der Mann krank.
Oder nicht ganz bei Trost.
Alles in allem ein komischer Kauz, fand Begemann, den die Kollegen ebenfalls für einen komischen Kauz hielten, seit ihnen zu Ohren gekommen war, dass er schon seit Jahren Oboe spielte. Begemann hatte folglich eine Schwäche für Menschen, die nicht ganz bei Trost waren.
Als der Mann mit dem Vogelkäfig noch dreihundert Meter entfernt war, trat Begemann auf die Bremse und brachte den Vierzigtonner neben ihm zum Stehen.
Er ließ die Scheibe auf der Beifahrerseite herunter.
»Wohin soll’s denn gehen?«
Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten.
»Nach Wiesbaden.«
»Bis Erbenheim kannste mitfahren.«
Begemann hörte es rumpeln, dann schwang die Tür auf und der Vogelkäfig wurde auf den Sitz gehoben. Der Besitzer kletterte hinterher und schloss ächzend die Tür der Fahrerkabine. Dann bedankte er sich verlegen.
Als Begemann in den Rückspiegel sah, entdeckte er mit einigem Abstand
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