Die Voliere (German Edition)
ihn die Kraft verließ, wie immer, wenn eine seiner Kreaturen zu Schaden kam.
Die grüne Baumpython, die Nora Winter ihm abgekauft und nicht mitgenommen hatte, sei es aus Gedankenlosigkeit oder Gleichgültigkeit. Gleich hinter den Augenhöckern war der Kopf vom Körper abgetrennt, die Bruchstellen von einem dumpfen Karmesinrot, ein unnatürlicher Kontrast zum grünen, glänzenden Leib.
Eine Träne fiel auf den Schlangenkopf und Tibursky wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Dabei zog er sich mit der klobigen blauen Armbanduhr einen Kratzer an der Stirn zu. Während er den roten Striemen im Spiegel betrachtete, breitete sich ein pulsierender Schmerz über seinen Brauen aus.
In den Tagen unmittelbar vor seiner Freilassung hatte er oft davon geträumt, wie er – endlich frei – ein Flugzeug der staatlichen brasilianischen Airline TAM besteigen und nach São Paulo fliegen würde. Von dort würde er weiter Richtung Manaus über einem endlosen grünen Meer schweben, bevor die Maschine in die bleierne Hitze rund um den Amazonas eintauchte.
Aber dieses klobige blaue Ding an seinem Arm macht seine Pläne zunichte. Damit würden sie ihn überall aufspüren und einsperren, lange bevor er den Flughafen erreicht hatte. Und die Auflagen waren eindeutig.
Aus der Traum von Südamerika.
Ohne lange zu überlegen, holte er aus und schlug die Uhr gegen den Rand des Waschbeckens. Einmal, zweimal, immer heftiger, bis ihn die Kräfte verließen.
Am Ende fand er sich selbst auf dem Boden wieder, saß da wie ein trotziges Kleinkind und betrachtete die Uhr an seinem schmerzenden Handgelenk, die offenbar keinen Kratzer abbekommen hatte. Mit grausamer Gleichgültigkeit zeigte sie die Zeit an, während sie, unter der unscheinbaren Oberfläche verborgen, jede Minute per GPS die Koordinaten seines Aufenthaltsortes ermittelte und via Handynetz an einen Zentralrechner weiterleitete.
Tibursky war ein Mensch ohne jegliche Privatsphäre. Und der sich nach der Intimität zurücksehnte, die ihm seine Zelle im Trakt der JVA Schwalmstadt geboten hatte.
*
»Ich hab immer noch kein Geschenk«, sagte Nora, rückte die Sonnenblende über dem Beifahrersitz zurecht, bis sie ihren Mund im Spiegel sah, und zog den Lippenstift nach.
Bruno lächelte und drehte die Lautstärke herunter. La Bohème , ein Mitschnitt der Aufführung, die Nora vor ein paar Tagen gemeinsam mit ihm besucht hatte. Die Frankfurter Oper bot diese neue Dienstleistung an: Am Ende der Vorstellung bestellte man und am übernächsten Tag lag eine edel gestaltete, personalisierte Box, die Audio-CD und DVD enthielt, im Briefkasten. Besonders kundenfreundlich – wenn man vom Preis einmal absah.
»Keine Zeit gehabt, etwas zu besorgen?«
»Eher keine Ahnung, was man seinem ehemaligen Chef zum Ausstand schenkt.«
Brunos Landrover Defender pflügte schwerfällig wie ein Raddampfer durch den Frankfurter Abendverkehr, am Architekturmuseum vorbei und über die Untermainbrücke. Hoch droben glänzte in der Abendsonne die typische Bogenform des Dachaufbaus mit dem leuchtend blauen Schriftzug Oper Frankfurt.
Sì. Mi chiamano Mimì,
ma il mio nome è Lucia.
Grazia Doronzio sang die Mimi, für ihre grandiose Darbietung hatte man sie am Ende der Aufführung mit Standing Ovations bedacht.
Bruno bog unverhofft ab und brachte den Wagen direkt neben dem Eingang zur U-Bahn zum Stehen – in der verkehrsfreien Zone. Er riss die Fahrertür auf, erklärte, er sei gleich wieder da und eilte zum Haupteingang.
Nora sah ihm völlig perplex nach. Eine grauhaarige, verwahrlost wirkende Frau schob einen mit Leergut gefüllten Einkaufswagen vorbei, am Griff hingen mindestens drei weitere prall gefüllte Plastiktüten. Direkt neben dem Beifahrerfenster legte sie eine Pause ein, starrte durch die Scheibe, zeigte Nora demonstrativ einen Vogel und setzte sich kopfschüttelnd wieder in Bewegung. Nora schloss die Augen und atmete tief durch.
La storia mia
è breve. A tela o a seta
ricamo in casa e fuori …
Eine Ewigkeit später kehrte Bruno zurück und ließ den Motor an.
»Was war denn das?«, wollte Nora wissen.
»Lass dich überraschen.«
Mehr war ihm nicht zu entlocken, bis sie vor dem Präsidium parkten.
Werner Hartmanns Ausstand fand in der Cafeteria des Frankfurter Polizeipräsidiums statt. Er selbst hatte einen bescheidenen Besprechungsraum in der Nähe seines Büros reserviert, doch als der Polizeipräsident Wind davon bekam, war der Abschied kurzerhand – und gegen Hartmanns
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