Die Voliere (German Edition)
Protest – in die weitläufige Halle im ersten Stock verlegt und um ein kaltes Buffet bereichert worden.
Eine kluge Entscheidung, wie sich zeigte: Mehr als hundert Kollegen drängten sich um Häppchen und Getränke und laufend trafen weitere ein. Hartmann kannte fast alle mit Namen, und mit den meisten hatte er während seiner fast vierzigjährigen Laufbahn im Polizeidienst zusammengearbeitet.
Nora bahnte sich ihren Weg durch die Besucher, von denen einige bereits mit geröteten Wangen und glasigen Augen ein wenig zu laut lachten.
Sie entdeckte Hartmann wenige Schritte neben der Bar, an der Seite seiner Frau, in ein Gespräch mit Gideon Richter vertieft. Noras Herz schlug schneller. Sie fasste Bruno, der sich hinter ihr durch die Menschenmenge zwängte, bei der Hand und zog ihn weiter. Weniger aus Sorge, ihn zu verlieren, sondern weil sie Halt bei ihm suchte.
Hartmann und Gitte blickten im selben Moment zu ihr herüber. Während Hartmann sich zu freuen schien, lächelte Gideon Richter nur so lange, bis er den Begleiter in ihrem Schlepptau entdeckte. Die Freude machte einer kühlen Arroganz Platz. Genau diesen Wesenszug hatte Nora vor Jahren als Erstes an ihm kennengelernt, auch wenn sich ihr Bild von ihm später gewandelt hatte.
Gideon starrte auf einen Punkt hinter ihr, fixierte Bruno, und Nora ahnte, dass dieser Blick ebenso herausfordernd erwidert wurde.
Endlich hatten sie sich zu Hartmann durchgekämpft. Sein Anblick stimmte sie wehmütig. Ständig schüttelte ihm jemand die Hand, musste er Small Talk, Gratulationen und Scherze über sich ergehen lassen – nun wo er im Ruhestand sei, könne er endlich Briefmarken sammeln. Nach einem kurzen Schnack ging jeder seiner Wege. Noras ehemaliger Vorgesetzter wirkte in dieser trubeligen Umgebung seltsam deplatziert.
Hartmanns abruptes Ausscheiden aus dem Dienst war nicht geplant. Vor einem Dreivierteljahr war eine seiner erwachsenen Zwillingstöchter nach einem schweren Autounfall ins Koma gefallen, aus dem sie bisher nicht erwacht war. Die Ärzte machten Hartmann und seiner Frau keine großen Hoffnungen, seine Tochter hatte massive Schädelverletzungen davongetragen. Acht Wochen später hatte ihr Exchef seinen vorzeitigen Abschied eingereicht. Er wollte mehr Zeit für seine Familie haben.
In der Zeit bis zu Noras Wechsel ins ZPD hatten sie einige lange Gespräche geführt und Nora hatte das Gefühl, als sei eine unverbrüchliche Beziehung zwischen ihnen entstanden. Zeitweilig hatte sie den Eindruck gehabt, Hartmann besser zu kennen als ihren eigenen Vater.
Nun schloss er sie in die Arme, wie es enge Freunde taten. Als sie kurz zur Seite blickte, entdeckte sie einen Anflug von Neid in Gittes Blick.
»Darf ich vorstellen – Bruno Albrecht, Werner Hartmann.«
Bruno begrüßte Hartmann mit einem festen Händedruck. Dann zog er aus der Innentasche seines Jacketts einen Umschlag, eingewickelt in Geschenkpapier und mit einer Schleife versehen, und reichte ihn Nora, die ein ziemlich überraschtes Gesicht machte.
Bruno zwinkerte ihr zu. »Von Nora und mir.«
Hartmann bemerkte Noras Unsicherheit, nahm aber den Umschlag und öffnete ihn. Zwei Opernkarten für La Bohème am übernächsten Freitag. Erster Rang, Reihe eins, Mitte. Der Preis war mit einem schwarzen Balken unkenntlich gemacht, aber Nora wusste, dass die Karten an die hundertvierzig Euro pro Stück kosteten. Hartmann und seine Frau sahen ebenso überrascht aus wie Nora. Jemand pfiff anerkennend.
»Das … ist sehr großzügig.«
Nora brachte kein Wort heraus, aber nahm sich vor, nachher im Auto ein ernstes Wörtchen mit Bruno zu reden.
»Eine hervorragende Aufführung. Nora und ich haben sie letzte Woche angeschaut.«
Nora bemerkte, wie sich Gideons Miene noch mehr verfinsterte. Jetzt kam zum Neid auch noch gekränkte Eitelkeit hinzu. Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken.
»Ich meinte gelesen zu haben, dass die Vorstellungen bis Weihnachten restlos ausverkauft sind«, sagte Hartmanns Frau.
»Manchmal hat man Glück und es werden Karten zurückgegeben«, erwiderte Bruno munter.
Nach einem weiteren Blick auf die Eintrittskarten meinte Hartmann: »Eigentlich ist freitags ja immer mein Doppelkopfabend.«
»Das wäre ja noch schöner«, rief seine Frau. »Einmal wirst du wohl auf deine Männerrunde verzichten können, um mit mir in die Oper zu gehen!«
Die Umstehenden lachten und Nora und Bruno wollten sich gerade auf den Weg zum Sektausschank machen, als sie Gideons Stimme in ihrem
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