Die Voliere (German Edition)
Gartenstraße hielt.
Ein paar Augenblicke lang saßen sie schweigend nebeneinander, Bruno hatte den Motor abgestellt und sah Nora offen ins Gesicht. Schon begannen die Scheiben, von innen zu beschlagen. Bruno streichelte ihren Nacken, fuhr mit dem Daumen über den Flaum und zog sie an sich. Sie küssten sich leidenschaftlich und lange, bevor sie sich voneinander lösten.
»Kann ich sonst noch was für dich tun?«
»Ich weiß nicht.« Nora fuhr mit dem Zeigefinger über die geschwungene Linie von Brunos Ohr. »Ich bin betrunken und verwirrt und sauer und deprimiert – alles gleichzeitig. Kein guter Zustand, um etwas für mich zu tun. Ich muss vielleicht erst einmal selbst etwas für mich tun.«
Bruno nickte verständnisvoll. Er wartete eine Weile, doch als es so schien, als wollte Nora nichts mehr hinzufügen, sagte er: »Also dann?«
»Also dann«, antwortete Nora und mit einem Mal war ihr zum Heulen zumute. Weil sie keinesfalls wollte, dass Bruno etwas davon mitbekam, öffnete sie die Tür und stieg aus. Bevor sie die Tür wieder zuschlagen konnte, sagte Bruno: »Dieser Gideon Richter, ist das eigentlich mehr als ein Kollege?«
»Richter?«, Noras Stimme klang lauter als beabsichtigt. »Gideon Richter ist ein arroganter Wichtigtuer.« Es tat ihr leid, noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, aber nun konnte sie ihre Worte nicht mehr zurücknehmen. Bruno lächelte, eher mitleidig als zufrieden. Nora knallte die Tür zu. Der Motor wurde angelassen, der Blinker gesetzt, dann schoss der Wagen davon.
Nora eilte durch den Regen auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sich der Hauseingang befand. Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen näherte sich eine Straßenbahn. Eine schemenhafte Gestalt huschte über die Straße, das aufblitzende Licht gestattete einen flüchtigen Blick auf ein mädchenhaftes Gesicht. Kaum war die Frau auf Noras Seite angelangt, schickte sich eine zweite Gestalt an, die Straße zu überqueren, offenbar ihr Begleiter. Der Regen wurde stärker, die Passanten suchten Schutz unter ausladenden Balkonen und Ladenmarkisen. Nora erspähte im Bruchteil von Sekunden ein Kapuzenshirt, zerschlissene Jeans und Sneakers, doch nun war die Straßenbahn schon bedrohlich nah. Das ohrenbetäubende Klingeln und metallische Kreischen gellte in den Ohren, als der Fahrer das Warnsignal auslöste und eine Vollbremsung hinlegte. Es war nicht zu erkennen, ob der junge Mann erfasst worden war. Die Frau, die unmittelbar neben Nora stand, schrie in Panik auf, doch wie durch ein Wunder kam ihr Begleiter mit dem Schrecken davon und überquerte eilends die Straße. Die Tür der Straßenbahn öffnete sich und der Fahrer ließ eine Schimpfkanonade vom Stapel, doch das Paar machte sich bereits aus dem Staub.
Noras Herz klopfte wie verrückt. Sie sah dem Pärchen nach, aber die Dunkelheit hatte die beiden bereits verschluckt. Mit zitternden Fingern holte sie ihr Handy aus der Tasche und rief Bruno an. Nach dem dritten Läuten nahm er ab, das Dröhnen im Hintergrund wies darauf hin, dass er sich noch im Auto befand.
»Nora? Geht’s dir nicht gut?«
Sie holte tief Luft. »Ich will mir dir schlafen. Jetzt.«
Eine Gruppe junger Männer, mit Bierflaschen bewaffnet, kam ihr entgegen, teilte sich und schloss sich wieder zusammen, nachdem man ihr Durchlass gewährt hatte.
»Sorry, die Verbindung ist schlecht, könntest du das noch mal wiederholen?«
»Ich will mit dir schlafen«, schrie Nora in den Hörer. »Vögeln, poppen, Sex machen – jetzt sofort.«
Die Jungs mit den Bierflaschen in der Hand drehten sich grinsend um.
Fünf Minuten später prosteten dieselben jungen Männer anerkennend einem vorbeibrausenden Landrover zu, in dessen Heck sich ein Schild mit der Aufschrift Notfall! befand.
*
Null null null null.
Halb eins.
Drei.
Rosen ist aufgewacht, er liegt auf dem gemachten Bett – angezogen, sein Mund staubtrocken. Er dreht den Kopf zum Radiowecker, die vier roten Ziffern der Zeitanzeige stehen immer noch auf 00 : 00, das Blinken mutet wie eine Warnung an. In der JVA hat ihm Tillich immer die Zeit eingestellt, doch hier gibt es keinen Tillich mehr, nur G. Richter , und der sieht nicht so aus, als ob er ihm helfen würde. Rosen selbst hat keine Ahnung, wie man das Ding handhabt.
Er sieht auf seine neue Armbanduhr, das blaue Monstrum, es ist halb eins. Mühsam richtet Rosen sich auf, der Rücken schmerzt, das Bett quietscht unter ihm.
Als er endlich im Hier und Jetzt angekommen ist, geht er ins Bad
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