Die Voliere (German Edition)
und trinkt. Hält den Mund direkt unter den Strahl, spürt, wie das Wasser an den Mundwinkeln hinunterrinnt, das Kinn hinab. Ausschnitt und Kragen des T-Shirts werden nass und kalt. Rosen trocknet sich mit dem Gästehandtuch ab.
Er kehrt ins Zimmer zurück. G. Richters Jacke und Schuhe stehen nicht im Flur, also ist er noch unterwegs.
In der JVA hat Rosen zu dieser Zeit immer sein Mittagessen bekommen, doch hier stellt ihm niemand etwas hin, er muss sich selbst bedienen, aber er traut sich nicht, ohne Erlaubnis etwas aus dem Kühlschrank zu nehmen. Er ist hier ja nicht zu Hause.
Also setzt er sich wieder aufs Bett, misst seinen Insulinspiegel, öffnet das schwarze Lederetui und holt das Spritzenbesteck hervor. Doch irgendetwas läuft schief: Vielleicht zieht er die Nadel zu früh heraus oder er war bereits zu stark unterzuckert, ohne es zu merken; möglicherweise hat er auch versehentlich den Muskel erwischt, obwohl sich an dieser Stelle eigentlich keiner befindet. Wie auch immer, er fühlt sich hundeelend. Ihm wird heiß und kalt zugleich, seine Hände zittern und Schweiß sammelt sich in seinem Nacken, dann rast der Teppichboden geradewegs auf ihn zu. Bald darauf kommt er wieder zu sich, aber es ist mehr ein kurzes Auf- und wieder Abtauchen aus der Wirklichkeit. Er nimmt G. Richters Stimme wahr, die wütend klingt und erschrocken, er scheint mit jemandem zu sprechen, aber die Antwort hört Rosen nicht. Er lässt sich wieder in den Nebel sinken, bis jemand seinen Namen ruft und ihn zu antworten drängt – mit so viel Nachdruck, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibt, als zu reagieren. »Lassen Sie mich, ich höre Sie doch!«, wehrt er ab.
Samstag, 2. November
Nora saß nackt auf der Bettkante und sah aus dem bodentiefen Fenster. Sie lauschte Brunos gleichmäßigem Atem und betrachtete ihr Spiegelbild in der Panoramascheibe. Sie hatten sich kurz und heftig geliebt, zwei Mal hintereinander, und unmittelbar danach war er keuchend in die Kissen gesunken, hatte mit der Fingerkuppe wortlos ein Herz auf ihren Hintern gezeichnet und war eingeschlummert.
Nora fand keinen Schlaf. Die Ereignisse des Tages hingen ihr nach, perlten nicht so leicht von ihr ab wie die Regentropfen an der Glasscheibe.
Fröstelnd hatte sie den Messeturm im Hintergrund und danach ihre schmalen Konturen im Vordergrund studiert. Schließlich stand sie lautlos auf, um Brunos Wohnung in Augenschein zu nehmen.
Er bewohnte ein hundertfünfundvierzig Quadratmeter großes Penthouse im Westhafen. Eine solche Luxusherberge in einem der angesagtesten Viertel von Frankfurt kostete gut und gerne zwei Millionen Euro oder mehr. Das und seine Geschichte vom Opernsponsoring beflügelten Noras Neugierde.
Auf Zehenspitzen schlich sie durch die weitläufigen Räume, wobei sie hin und wieder einen vorsichtigen Blick in Richtung Schlafzimmer warf. Sie versuchte, sich aus den wenigen persönlichen Gegenständen, die sie entdeckte, ein Bild von Bruno Albrecht zu machen. Alles wirkte seltsam arrangiert, als wäre es kein echtes Zuhause. Vielleicht wollte er bewusst diesen Eindruck erwecken.
Geschmack besaß Bruno Albrecht, keine Frage: Möbel, Lampen und ein paar handverlesene Skulpturen, die Nora an Chimären erinnerten, waren vom Feinsten und bestens aufeinander abgestimmt, soweit sie es im Halbdunkel erkennen konnte. Nichts deutete indes darauf hin, dass hier wirklich jemand lebte. Nirgendwo auch nur ein Hauch von Unordnung – von ihrer und seiner Unterwäsche und zwei leeren Kondomhüllen neben der Couch einmal abgesehen. Nichts, was auch nur entfernt an den Alltag erinnerte: keine Zeitung, keine Post, keine Notizen. Entweder waren solche banalen Dinge in seiner Wohnung verpönt oder die Putzfrau hatte ganze Arbeit geleistet. Nora erwartete fast, an einem der Möbelstücke noch ein Preisschild zu sehen.
Ihr Gaumen fühlte sich völlig ausgetrocknet an. Sie schlich in die Küche, die gemeinsam mit dem Ess- und Wohnbereich einen riesigen, etwa dreieinhalb Meter hohen Raum bildete, schenkte sich ein Glas Leitungswasser ein und leerte es in einem Zug.
In einem schmalen Fach unter der Arbeitsplatte schimmerte etwas in der Dunkelheit, ein einzelnes Blatt Papier, das in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper wirkte und ihre Aufmerksamkeit weckte.
Nora warf einen raschen Blick in Richtung Schlafzimmer und spitzte die Ohren. Sie hörte Brunos leise Schnarchgeräusche. Beruhigt beugte sie sich hinunter und spähte in das Fach. Ein Geschäftsbrief? Sie bekämpfte
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