Die Voliere (German Edition)
den Drang, das Blatt herauszuziehen. Sie schenkte sich ein zweites Glas Wasser ein, trank einen Schluck und stellte es auf der Arbeitsplatte ab. Sie fuhr zusammen, als es laut klirrte; das Wasser schwappte über. Sie stand reglos da, doch als außer dem Klopfen ihres Herzens nichts zu hören war, siegte die Neugierde. Sie nahm das Blatt heraus, legte es vor sich auf den Tresen, konnte es im Halbdunkel aber nicht entziffern. Sie ging damit zur Schiebetür, die auf die gegenüberliegende Terrasse führte, und hielt das Schreiben hoch, um im diffusen Licht, das durch die Scheiben fiel, etwas zu erkennen.
Ein Kostenvoranschlag aus Großwallstadt. Das lag irgendwo im Spessart, wenn sie sich recht erinnerte. Eine Elektrofirma namens Kurz stellte Verkabelung und Kleingeräteinstallationen in Rechnung. Für einen fünfstelligen Betrag.
Nora spürte, wie eine Welle der Scham sie erfasste. Erst vögelst du mit ihm und dann schnüffelst du in seinen Handwerkerrechnungen herum? Was ist mit dir los, Nora? Treibt dich dein Bullen-Gen um? Oder ist das eine Unart, die man sich in dem Laden angewöhnt, sodass man irgendwann nicht mehr zwischen Privat- und Berufsleben zu unterscheiden vermag? Was nimmst du als Nächstes unter die Lupe, seine Brieftasche? Rufst du Gideon an, damit er seine Datenbanken für dich überprüft?
Nur gut, dass Bruno sie jetzt nicht sehen konnte. Hastig schob sie das Blatt an seinen Platz zurück und ging zur Couch hinüber, setzte sich, bis sie sich wieder gefangen hatte. Das Leder fühlte sich angenehm kühl an. Auf einem Vertiko neben der Eingangstür standen mehrere Bilderrahmen. Ein Scheinwerfer draußen durchschnitt die Dunkelheit, ließ einen der Rahmen aufblitzen. Ein Mädchengesicht: lange dunkelblonde Haare, eine Zahnspange, ein spitzes Kinn und ein Muttermal neben dem linken Auge. Etwas an dem Bild machte Nora neugierig.
Sie ging näher heran und nahm das Foto in die Hand, um es genauer zu betrachten. Überrascht musterte sie die Augen- und Mundpartie, schüttelte fassungslos den Kopf. Die Ähnlichkeit mit Bruno war frappierend. Aber hatte er nicht gesagt, seine Ehe sei kinderlos geblieben? Wieder etwas, das leise Zweifel in ihr aufkeimen ließ.
Das Bild des Mädchens weckte eine vage Erinnerung. Doch im selben Moment, als sie das Gefühl hatte, zu wissen, was es damit auf sich hatte, packte eine Hand ihren Nacken. Sie stieß einen Schrei aus.
Bruno lachte.
»Du hast aber auch ein echtes Talent, dich von hinten anzuschleichen!«, entfuhr es ihr.
»Ich bin aufgewacht und du warst nicht da.«
»Ich konnte nicht schlafen. Da habe ich mich ein bisschen umgesehen, ich hoffe das … stört dich nicht?«
Bruno grinste anzüglich. »Ist nur fair, wenn du vor deinem Einzug noch etwas anderes als das Schlafzimmer zu sehen bekommst.«
»So weit sind wir noch lange nicht«, konterte Nora. Die Handwerkerrechnung ragte ein Stück weit aus dem Fach heraus. Bruno bemerkte ihren Blick und drehte sich suchend um.
»Ich dachte, du hast keine Kinder?«, sagte Nora rasch und nahm das Foto in die Hand, um Bruno abzulenken.
Er warf einen Blick auf das Mädchen, dann nahm er Nora den Rahmen aus der Hand und stellte ihn an seinen Platz zurück.
»Das ist meine Schwester. Als sie zwölf war.«
»Ist sie jünger oder älter als du?«
»Wir sind Zwillinge.«
»Dann steht ihr euch sicher sehr nahe.«
»Kann man wohl sagen.«
»Lebt sie in der Nähe?«
»Leider nein, wir haben uns schon länger nicht mehr gesehen. Hast du Geschwister?«
»Ich bin ein typisches verwöhntes Einzelkind. Aber ich habe mir immer eine Schwester gewünscht. So eine wie deine, mit langen braunen Haaren und Zahnspange, mit der man durch dick und dünn gehen kann.«
»Ein tolles Mädchen«, sagte Bruno mit versonnener Miene.
Nora fand diese Aussage über eine erwachsene Frau ein wenig seltsam, doch bevor sie lange darüber nachdenken konnte, ertönte der gedämpfte Klingelton ihres Handys in ihrer Handtasche. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits nach Mitternacht war. Wer zum Teufel rief um diese Zeit noch bei ihr an? Nach sechsmaligem Klingeln verstummte der Ton, offenbar hatte sich die Mailbox eingeschaltet.
Keine dreißig Sekunden später klingelte es erneut. Nora holte das Handy heraus und sah auf das Display
Gideon Richter. O nein, das konnte nur eins bedeuten.
Nora schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie sich etwas anziehen sollte, aber das war lächerlich. Gideon konnte schließlich nicht sehen, dass sie
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