Die Voliere (German Edition)
hatten die Männer sich gegenseitig am Revers gepackt und schoben sich wie zwei Platzhirsche durch die Küche. Der Esstisch rutschte über die Fliesen, der zweite Stuhl kippte um, Colaflasche und Gläser fielen zu Boden. Gideon schlug mit der Faust zu und streifte Brunos Wange. Nora sprang auf.
Zum ersten Mal wurde sie Zeugin, wie sich zwei Männer um sie prügelten, und stand mit offenem Mund da. Doch gerade als Gideon ein weiteres Mal ausholte, packten zwei riesige behaarte Pranken Gideon und Bruno am Schlafittchen und trennten die Kampfhähne. Nachdem Nora die Stühle wieder aufgestellt hatte, hievte Rosen die beiden Männer scheinbar mühelos auf ihre Plätze. Sie musterten sich mit verkniffener Miene und es kostete sie sichtlich einiges an Beherrschung, nicht augenblicklich wieder aufeinander loszugehen.
»Ich packe meine Sachen und gehe«, sagte Rosen. »Jetzt sofort, dann gibt es keinen Grund mehr für Streit.«
»Ich glaube, es geht nicht um dich, Heinz«, keuchte Albrecht und wischte sich einen schmalen Blutfaden aus dem Mundwinkel. Gideon gab lediglich ein Knurren von sich, womit er umso deutlicher seine Zustimmung zum Ausdruck brachte.
Rosen blickte zuerst Albrecht, dann Nora ratlos an. Die zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht habe ich eine Möglichkeit, Rosen und Lefeber unterzubringen«, sagte Albrecht.
»Wärst du ein paar Tage früher auf die Idee gekommen, wäre mir der ganze Schlamassel erspart geblieben«, zischte Gideon.
»Ich besitze einen Aussiedlerhof in einem kleinen Weiler im Spessart. Eigentlich hatte ich andere Pläne damit: Dort soll ein Therapiezentrum mit Streichelzoo für traumatisierte Kinder entstehen.«
»Prima, dann machst du jetzt ein Therapiezentrum mit Streichelzoo für Psychopathen daraus. Die dürfen dort Hamster zu Tode streicheln«, sagte Gideon, doch Bruno ignorierte seinen Sarkasmus.
»Die Schreckenmühle ist ein bisschen heruntergekommen, aber bewohnbar. Sie liegt am Rande von Scheelbach, ungefähr siebzig Kilometer östlich von Frankfurt, mitten in einem Spessarttal.«
»Schreckenmühle klingt doch passend«, kommentierte Gideon halblaut.
Nora sah zu Rosen hinüber, der auf einem der Küchenstühle saß, den Kopf in den Nacken gelegt, und laut schnarchte. Sie musste unwillkürlich gähnen und streckte sich. »Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll. Ich bin todmüde, Bruno, können wir Rosen ins Bett bringen und das morgen besprechen?«
Gideon rüttelte Rosen wach, der verwirrt blinzelte, und schickte ihn zu Bett. Auf Noras Frage, ob Rosen noch ein paar Tage bei ihm wohnen könne – wenigstens bis eine andere Unterkunft gefunden war –, knallte er wortlos hinter ihr und Albrecht die Wohnungstür zu.
Als Bruno Richtung Friedensbrücke fuhr, sagte Nora: »Könntest du mich bitte nach Hause bringen? Ich würde lieber in meinem eigenen Bett schlafen.«
Wortlos wendete Bruno und steuerte Sachsenhausen an.
In der Gartenstraße angekommen, parkte er den Wagen auf dem Gehsteig und stellte den Motor ab.
»Tut mir leid, das mit Gideon. Keine Ahnung, was in ihn gefahren ist«, sagte Nora.
»Aha.«
»Ich hab versucht, ihn mit Ceyda zu verkuppeln.«
»Hat nicht besonders gut funktioniert.«
»Nein, das hat es wohl nicht.«
Nora verspürte das Bedürfnis, das Thema zu wechseln. »Warum hast du das nicht schon früher vorgeschlagen? Das mit dem Haus im Spessart?«
»Habe ich. Ein paar Wochen vor der Entlassung habe ich Broussier und Dr. Rauch die Idee unterbreitet. Man wolle sie prüfen, hieß es.«
»Und dann hast du nie wieder was von ihnen gehört, nehme ich an? Typisch.«
»Deswegen habe ich beschlossen, mich bis auf Weiteres rauszuhalten. «
»Ich melde mich bei dir«, sagte Nora und sprang aus dem Auto. Auf eine innige Verabschiedung mit feuchten Küssen war ihr die Lust vergangen.
Montag, 4. November
Zwei Tage später fand eine Sitzung im ZPD statt, an der außer Nora Winter auch Dr. Broussier, Noras Chef Schreyer, der Sozialpädagoge Thorsten Neumann und Cornelius, der Leiter des Mobilen Einsatzkommandos III / K76 im Frankfurter Präsidium, das für die Überwachung der drei Männer zuständig war, teilnahmen. Neumann, von Amts wegen als Bewährungshelfer der Männer bestellt, war ein jugendlich wirkender Endvierziger mit schulterlangen Haaren und tiefen Krähenfüßen, der sich seinem deprimierenden Alltag zum Trotz ein jungenhaftes und offenes Lächeln bewahrt hatte.
Wie immer kam Broussier zu spät und blickte dann ständig und demonstrativ
Weitere Kostenlose Bücher