Die Voliere (German Edition)
nichts. Nora schauderte. Tibursky lief bereits die Treppe hinauf.
»Was haben Sie damit vor?«, rief sie ihm nach.
»Des kommt in mein Zimmer«, antwortete Tibursky.
»Ich glaube nicht, dass Lefeber damit einverstanden ist. Bringen Sie es bitte nach draußen. Oder in den Stall meinetwegen, damit es geschützt ist.«
Tibursky zog die Stirn kraus. Dann kehrte er um und lief an der zurückweichenden Nora vorbei, den Gang hinunter und bog um die Ecke; wenige Augenblicke später hörte sie die Verbindungstür zwischen Haus und Stall quietschen.
Nora atmete auf. Sie ging die Treppe hinauf und klopfte an Rosens Tür. Im Zimmer waren leise Stimmen zu vernehmen. Erst nach dem zweiten Klopfen bat Rosen sie herein. Er saß an einem kleinen Tisch, auf dem sein Kofferradio stand, und hörte einen Sender, der Schlager brachte. Der Boden um ihn herum war mit leeren Zwiebackpackungen übersät. Offensichtlich hatte er sich den ganzen Nachmittag ausschließlich davon ernährt.
»Kommen Sie nach unten, Rosen, wir brauchen Unterstützung beim Putzen. Und dann koche ich uns etwas.«
Rosen sah sie ratlos an und rührte sich keinen Millimeter.
»Na los, hier müssen alle mit anpacken!«
Endlich stemmte er sich an der Tischplatte hoch, schaltete das Radio aus und setzte sich in Bewegung. Er blieb vor Nora stehen, trotz seines Alters und seiner Krankheit eine imposante Erscheinung mit mehr als zwei Metern Körpergröße und dem Kreuz eines Preisboxers.
Er lächelte scheu. »Darf ich beim Kochen helfen? Ich kann das gut.«
Dienstag, 12. November
Zwölf. Dreißig. Vier.
Es ist spät, als er die Rücklichter des Landrovers zwischen den Bäumen verschwinden sieht. Richtung Scheelbach, dann fahren sie zurück nach Frankfurt, hat die Frau Doktor gesagt. Es ist halb ein Uhr nachts, wie Rosen weiß, denn seine neue blaue Uhr zeigt es ihm auf die Sekunde genau an. Eigentlich ist er froh über die neue Uhr. Sie hat Zeiger und das wirkt irgendwie elegant. Dass die Polizisten ihn damit überwachen können, stört ihn nicht. Viel eher beruhigt ihn der Gedanke, vier Aufpasser zu haben.
Bevor Bruno Albrecht und die Frau Doktor gefahren sind, haben sie gemeinsam mit Adam und ihm aufgeräumt, geputzt, gekocht, eingeheizt. Beim Essen haben die beiden sich verstohlene Blicke zugeworfen – Rosen glaubt, sie haben Sex miteinander gemacht. Wenn er das denkt, kann er die Frau Doktor nicht ansehen, denn er hat Angst, sie könnte vielleicht seine Gedanken lesen. Seine Gedanken, was Bruno und Frau Doktor miteinander tun, wenn sie alleine sind, sind nicht fein. Es wäre ihm peinlich, wenn irgendjemand davon erfahren würde.
Bevor sie gegangen sind, hat Bruno ihm gezeigt, wie man ein Kohlebrikett in nasses Zeitungspapier einwickelt und in den Ofen legt, damit die Glut bis zum Morgen erhalten bleibt.
Tibursky, das Wiesel, hat sich den ganzen Abend nicht blicken lassen, vermutlich studiert er in der Scheune das ekelhafte Getier, das er aus dem Wald mitgebracht hat.
Rosen bekommt in dieser Nacht kaum Schlaf. Er wacht stündlich auf und läuft ins Bad am Ende des Ganges, um Wasser zu trinken und zu pinkeln. Der Fliesenboden im Bad ist eiskalt unter den nackten Füßen. Seine Hausschuhe sind in den Kisten nicht aufgetaucht, vielleicht hat er sie bei G. Richter stehen lassen. Die Frau Doktor wird sich erkundigen, hat sie versprochen. Rosen ist nicht der Einzige, der nicht schlafen kann. Unten in der Küche hört er Lefeber herumwerkeln. Und nach einem seiner Toilettengänge – um Viertel vor vier – kommt Tibursky die Treppe rauf und schleicht wortlos in sein Zimmer, das sich direkt neben dem Bad befindet.
Rosen legt sich wieder ins Bett und lauscht. Ihn beunruhigt die Stille des Hauses, auch wenn der Wald um die Mühle herum nachts alles andere als still ist. Alleine das Rauschen der Bäume im Wind ist schon so laut, als würde eine Flutwelle auf ihn zurollen. Doch es ist das Fehlen menschlicher Geräusche, das Rosen ängstigt. In der JVA waren die Räume erfüllt von den Geräuschen schlafender, essender, streitender Männer. Wenn er Lefeber wieder husten hört, wird er sich gleich besser fühlen. Aber unten bleibt alles totenstill – Adam ist zu Bett gegangen. Willi schläft in seinem Käfig. Auch für ihn war die Reise anstrengend.
Rosen steht abermals auf. Er sieht aus dem Fenster. Starrt in die Schwärze des Waldes. Die Bäume zeichnen sich wie graue Linien vor der alles verschlingenden Dunkelheit ab. Wie Gitterstäbe. Unter sich, auf der
Weitere Kostenlose Bücher