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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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genau das, wonach Lefeber der Sinn stand, seit er heute Morgen das Fahrrad aus der Scheune geschoben hatte: Croissants.
    Eine ganze Weile fixierte er stumm die französischen Hörnchen, bevor er merkte, dass jemand mit ihm sprach. Eine dralle blonde Frau mit Doppelkinn sah ihn freundlich an: »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Ich … ja …« Lefeber räusperte sich und fuhr sich verlegen durch die Haare. »Entschuldigen Sie, Ihr Sortiment überfordert mich gerade ein wenig.«
    Er erwiderte ihren Blick und dann passierte das, was immer passierte, wenn ihm jemand in die tiefgründigen grünen Augen sah. Die Frau hielt in der Bewegung inne.
    Sobald Lefeber lächelte, fiel die Erstarrung von ihr ab und sie erwiderte das Lächeln.
    »Lassen Sie sich nur Zeit«, sagte sie und verschwand rasch hinter einem Vorhang, der offenbar ins Hinterzimmer führte.
    Lefeber ließ den Blick über die Auslagen schweifen. Auf der Theke lag ein Stapel BILD-Zeitungen. Fotos von ihm und seinen beiden Mitbewohnern auf Seite eins, allerdings zwanzig Jahre alte Bilder, auf denen er sich nicht besonders ähnlich sah. Wo verstecken sich die Kinderschänder? lautete die Schlagzeile in roten reißerischen Großbuchstaben. Lefeber überflog den Text. Die Zeitung bot eine nicht zu verachtende Belohnung für Hinweise über den Aufenthalt der Männer. Schnappschüsse sollten sogar mit tausend Euro honoriert werden. Grimmig spielte er mit dem Gedanken, selbst in Berlin anzurufen und die Belohnung zu kassieren. Über kurz oder lang würden die Reporter ohnehin vor der Schreckenmühle aufkreuzen.
    Als sich der Vorhang erneut teilte, trat nicht die dralle Blondine heraus, sondern ein Junge. Er war siebzehn oder achtzehn, wirkte kräftig, aber nicht dick; blonde Locken hingen ihm in die Stirn und seine roten Wangen rührten wohl von der Wärme in der Backstube her. Die Ähnlichkeit mit seiner Mutter war unverkennbar. Sein Gang hatte das Ungelenke eines Kindes und gleichzeitig das Großspurige eines Machos. Der Kerl war ausnehmend hübsch, dachte Lefeber und ihm wurde warm ums Herz. Doch dieses Gefühl machte ihm Angst und er lenkte seine Aufmerksamkeit schnell auf die Croissants und die verlockenden Düfte im Raum.
    »Hallo.«
    Lefeber sah hoch, die Stimme des Jungen klang kindlich, weit weniger erwachsen als erwartet. Er sah ihn offen an. Seine Augen waren grau und sein klarer Blick schien Lefebers Seele bis auf den Grund zu durchdringen. Er war aufgeregt wie vor einer Prüfung, als er antwortete.
    »Hallo auch.«
    »Machen Sie hier Urlaub?«
    »Ich … ja … kann man so sagen.« Was redete er da für einen Unsinn? Lefeber wollte den Jungen nicht mit komplizierten Erklärungen langweilen. Nein, er wollte ihn keinesfalls langweilen. Aber ihm auch nicht die Wahrheit gestehen.
    »Probieren Sie die Krusti, unsere Spezialität.« Der Junge deutete auf einen Korb, in dem sich gebräunte, kunstvoll gedrehte Teiggebilde türmten.
    In diesem Moment huschte die Mutter des Jungen wieder durch den Vorhang und gesellte sich zu ihnen. Als sie Lefebers Miene sah – verwirrt und unentschlossen – musste sie lachen. »Hat Timm Sie ›beraten‹? Entschuldigen Sie, er kann manchmal ein wenig aufdringlich sein.« Mit einem freundlichen Klaps auf den Rücken schickte sie ihren Sohn in die Backstube zurück. Bevor sich der Vorhang endgültig hinter ihm schloss, drehte sich der Junge noch einmal um und sagte mit einem schiefen Lächeln: »Sie sind schön.«
    Dann war er verschwunden.
    »Mit ›schön‹ meint er ›nett‹«, erklärte die Frau. Das schiefe Lächeln der eigenartige Satz und die ungelenken Bewegungen öffneten Lefeber die Augen: Der Junge war allem Anschein nach geistig behindert. Durfte man das heute überhaupt noch sagen, ›geistig behindert‹? So viele Dinge hatten sich in den zwanzig Jahren seiner Abwesenheit geändert. Vielleicht gab es heute einen korrekteren Begriff?
    »Timm ist ein ganz besonderes Kind«, sagte die Blonde, »Ich hoffe, Sie nehmen ihm seine direkte Art nicht übel. Er ist ziemlich zutraulich, manchmal ein bisschen zu sehr für meinen Geschmack.«
    »Das ist schon in Ordnung. Ich finde ihn sehr sympathisch.«
    Die Frau lächelte dankbar. »Haben Sie sich schon entschieden?«
    Lefeber sah sie verwirrt an.
    »Was Sie zum Frühstück mitnehmen möchten?«
    »Ach ja – Frühstück!« Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. Dann kaufte er vier Krustis, zahlte und verließ eilends die Bäckerei. Die Croissants, auf die er es ursprünglich

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