Die volle Wahrheit
Zwerg lächelte. »Im Hinterzimmer wartet eine junge Frau auf dich.«
Als der Schuppen eine Wäscherei gewesen war – vor der Schaukelpferd-Ära –, hatte man einen Teil mit billiger Holzvertäfelung in Hüfthöhe abgetrennt, für die Angestellten und die spezielle Person, die den Kunden erklären musste, was aus ihren Socken geworden war. Sacharissa saß sittsam auf einem Stuhl, drückte die Handtasche an sich und presste die Ellenbogen an die Seiten, um möglichst wenig von sich selbst dem Schmutz auszusetzen.
Sie nickte William zu.
Er überlegte, warum er sie hierher gebeten hatte. Ja… Sie war vernünftig, mehr oder weniger, führte die Bücher für ihren Großvater. Offen gesagt: William begegnete nicht vielen gebildeten Leuten. Dafür kannte er umso mehr Personen, die einen Schreibstift für eine überaus komplizierte Maschine hielten. Wenn Sacharissa über die Bedeutung eines Apostrophs informiert war, wollte William über den Umstand hinwegsehen, dass sie sich so verhielt, als lebte sie im vergangenen Jahrhundert.
»Ist dies jetzt dein Büro?«, flüsterte sie.
»Ich denke schon.«
»Du hast mir nichts von den Zwergen gesagt!«
»Stören sie dich?«
»Oh, nein. Zwerge sind meiner Erfahrung nach gesetzestreu und respektabel.«
William begriff plötzlich, dass er mit einer jungen Frau sprach, die sich nie in bestimmten Straßen aufgehalten hatte, wenn die Kneipen schlossen.
»Ich habe schon zwei gute Nachrichten für dich«, fuhr Sacharissa fort, als vertraute sie ihm ein Staatsgeheimnis an.
»Äh… ja?«
»Mein Großvater meint, dies sei der längste und kälteste Winter, an den er sich erinnern kann.«
»Ja?«
»Nun, er ist achtzig. Das sind ziemlich viele Jahre.«
»Oh.«
»Und der Jährliche Wettbewerb des Backen- und Blumen-Kreises der
Tollen Schwestern fand gestern Abend ein vorzeitiges Ende, als der Tisch umgestürzt wurde. Ich hab’s von der Sekretärin erfahren und alles fein säuberlich aufgeschrieben.«
»Äh. Hältst du das wirklich für interessant ?«
Sacharissa reichte William ein Blatt aus einem billigen Schreibheft.
Er las: »Der Jährliche Wettbewerb des Backen- und Blumen-Kreises der Tollen Schwestern fand im Lesezimmer der Tollen Schwestern am Hohen Schlag statt. Frau H. Strömig führte den Vorsitz. Sie hieß alle Mitglieder willkommen und lobte die großzügigen Gaben. Folgende Preise wurden verliehen…«
Williams Blick glitt über eine lange Liste von Namen und Preisen. »›Exemplar in einem Glas?‹« fragte er.
»Das war der Wettbewerb mit den Dahlien«, erklärte Sacharissa. William schrieb »Dahlie« hinter »Exemplar« und las weiter. »›Ein erlesenes Sortiment aus Bezügen für Stühle?‹«
»Ja?«
»Oh, nichts.« William schrieb »Stuhlbezüge«, was kaum besser war,
und setzte die Lektüre mit der Aufmerksamkeit eines Dschungelforschers fort, der jeden Augenblick damit rechnete, dass irgendwelche exotischen Tiere aus dem Gestrüpp sprangen. Der Artikel endete:
»Allerdings litt die gute Stimmung, als ein von der Wache verfolgter nackter Mann durchs Fenster sprang, den Raum durchquerte und die Törtchen in Unordnung brachte, bevor er beim Obstdessert gefasst wurde. Die Sitzung endete um 21.00 Uhr. Frau Strömig dankte allen Mitgliedern.«
»Was hältst du davon?«, fragte Sacharissa mit einem Hauch Nervosität.
»Nun«, sagte William, und seine Stimme schien dabei aus der Ferne zu kommen, »ich glaube, dieser Artikel lässt sich kaum mehr verbessern. Äh… was war deiner Meinung nach das wichtigste Ereignis des Abends?«
Sacharissa hob erschrocken die Hand zum Mund. »Oh, ja! Ich habe ganz vergessen, darauf hinzuweisen! Frau Schmeichel gewann den ersten Preis für ihren Rührkuchen! Sechs Jahre lang musste sie sich mit dem zweiten Platz begnügen…«
William blickte an die Wand. »Bravo«, sagte er. »Das muss unbedingt hinzugefügt werden. Aber wie wär’s, wenn du beim Wachhaus der Tollen Schwestern vorbeigehst und dich nach dem nackten Mann erkundigst…?«
»Kommt nicht in Frage! Respektable Frauen haben nichts mit der Wache zu tun!«
»Ich meine, frag einfach, warum der Mann verfolgt wurde.« »Warum sollte ich?«
William versuchte, eine vage Idee in Worte zu kleiden. »Die Leute
wollen vielleicht darüber Bescheid wissen.«
»Aber hat die Wache nichts dagegen, wenn ich Fragen stelle?«
»Nun, es ist unsere Wache. Warum sollte sie etwas dagegen haben? Und ich schlage vor, du suchst einige wirklich alte Leute und fragst sie nach dem Wetter.
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