Die volle Wahrheit
keine
Plätzchen in einer Konditorei. Ich meine, es ist bestimmt nicht ein-
fach…«
Er schnupperte. Seine Augen begannen zu tränen.
»Auch das noch«, ächzte er. »Wir bekommen erneut Besuch. Ich ken-
ne diesen Geruch.«
»Welchen Geruch?«, fragte der Zwerg.
Die Tür öffnete sich knarrend.
Über den Geruch des Stinkenden Alten Ron lässt sich Folgendes sa-
gen: Er war so intensiv, dass er eine eigene Persönlichkeit gewonnen
hatte. Nach dem ersten Schock gaben die Geruchsorgane einfach auf
und stellten den Dienst ein, weil sie den Geruch ebenso wenig verste-
hen konnten wie eine Auster den Ozean. Nach einigen Minuten in sei-
ner Gegenwart lief den Leuten das Schmalz aus den Ohren, und Haare
begannen zu bleichen.
Der Geruch hatte sich so weit entwickelt, dass er inzwischen ein fast
unabhängiges Leben führte, gelegentlich das Theater besuchte und klei-
ne Gedichtbände las. Ron wurde von seinem eigenen Geruch in den
Schatten gestel t.
Der Stinkende Alte Ron hatte die Hände tief in die Taschen gescho-
ben, und aus einer dieser Taschen ragte eine Leine hervor, besser ge-
sagt: eine Schnur, die aus mehreren ungeschickt miteinander verknote-
ten Schnüren bestand. Das andere Ende war am Hals eines kleinen,
gräulichen Hunds befestigt. Vermutlich handelte es sich um einen Ter-
rier. Er hinkte, bewegte sich gleichzeitig auf eine indirekte Art und Weise, als wollte er möglichst unbemerkt durch die Welt wandeln. Er ging
wie ein Hund, der vor langer Zeit gelernt hat, dass die Welt mehr ge-
worfene Stiefel als leckere Knochen bereithält. Er ging wie ein Hund,
der jederzeit zum Spurt bereit war.
Aus verkrusteten Augen sah er zu William auf und sagte: »Wuff.«
William fühlte sich verpflichtet, für die Menschheit einzutreten.
»Bitte entschuldige den Geruch«, sagte er und blickte dann auf den
Hund hinab.
»Was ist mit dem Geruch, den du immer wieder erwähnst?«, fragte
Gunilla. Die Nieten an seinem Helm wurden stumpf.
»Er, äh, gehört Herrn… äh… Ron«, erwiderte William und richtete
noch immer einen misstrauischen Blick auf den Hund. »Die Leute mei-
nen, es läge an den Drüsen.«
Er war sicher, den Hund schon einmal gesehen zu haben. Er hockte
immer in einer Ecke des Bilds, trippelte durch die Straßen oder saß
irgendwo und beobachtete, wie die Welt an ihm vorbeistrich.
»Was will er?«, fragte Gunilla. »Glaubst du, er hat einen Auftrag für
uns?«
»Das bezweifle ich«, sagte William. »Er ist eine Art Bettler. Allerdings
wollen sie ihn nicht mehr in der Bettlergilde.«
»Er sagt gar nichts.«
»Nun, meistens steht er einfach nur da, bis ihm die Leute etwas ge-
ben, damit er weggeht. Äh… kennst du Traditionen wie den Begrü-
ßungswagen, mit dem Nachbarn und Händler Neuankömmlinge in
einem Viertel empfangen?«
»Ja.«
»Dies ist das Gegenteil davon.«
Der Stinkende Alte Ron nickte und streckte die Hand aus. »Stimmt
haargenau, Herr Schubser. Versucht’s bloß nicht mit Schmusgequat-
sche, ihr Trottel, ich hab’s ihnen gesagt, nein, ich beschimpfe nicht, was Rang und Namen hat, Mistundverflucht. Jahrtausendhand und Krevetten. Verflixt.«
»Wuff.«
William starrte erneut auf den Hund hinab.
»Knurr«, machte das Tier.
Gunilla kratzte sich irgendwo in den unergründlichen Tiefen seines
Barts.
»Eins ist mir an dieser Stadt aufgefal en«, sagte er. »Die Leute kaufen
einfach alles von einem Mann auf der Straße.«
Er griff nach einigen noch druckfeuchten Nachrichtenblättern.
»Verstehst du mich?«, fragte er den Stinkenden Alten Ron.
»Mistundverflucht.«
Gunilla gab William einen Stoß in die Rippen. »Was bedeutet das dei-
ner Meinung nach? Ja oder nein?«
»Wahrscheinlich ja.«
»Na schön. Äh, hör mal, wenn du das hier für zwanzig Cent pro
Stück verkaufst, so bekommst du…«
»He, du kannst sie nicht so billig verkaufen!«, entfuhr es William.
»Warum nicht?«
»Warum? Weil… weil… weil dann alle in der Lage wären, die Nach-
richten zu lesen, darum!«
»Gut, dann sind sicher auch al e bereit, zwanzig Cent zu bezahlen«,
erwiderte Gunilla ruhig. »Es gibt viel mehr arme Leute als reiche, und
von ihnen bekommt man leichter Geld.« Er sah den Stinkenden Alten
Ron und schnitt eine Grimasse. »Die Frage mag dir seltsam erscheinen,
aber… Hast du irgendwelche Freunde?«
»Ich hab’s ihnen gesagt! Ich hab’s ihnen gesagt ! Mistundverflucht!«
»Vermutlich hat er tatsächlich welche«, sagte William. »Er treibt
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