Die volle Wahrheit
Nadel und Tulpe –
die Neue Firma, wie Herr Nadel sich selbst und seinen Partner nannte
– kannten keine Regeln.
Sie sahen sich als Vermittler. Sie waren Männer, die dafür sorgten, dass Dinge geschahen. Und dabei kamen sie herum.
Hinter solchen Einschätzungen steckten bewusste Überlegungen, und
die betrafen nicht beide Partner, sondern vor al em Herrn Nadel. Herr
Tulpe benutzte seinen Kopf die ganze Zeit über, aus einer Entfernung von etwa zwanzig Zentimetern, aber abgesehen von ein oder zwei un-erwarteten Bereichen neigte er nicht dazu, sein Gehirn zu benutzen. Im
Großen und Ganzen überließ er Herrn Nadel das mehrsilbige Nach-
denken.
Herr Nadel hingegen verstand sich nicht besonders gut auf anhalten-
de, sinnlose Gewalt und wusste zu schätzen, dass Herr Tulpe über ei-
nen unerschöpflichen Vorrat davon verfügte. Bei ihrer ersten Begeg-
nung hatten sie erkannt, dass ihre Fähigkeiten ihre Partnerschaft größer
machten als die Summe der Teile. Herr Nadel bemerkte sofort, dass
Herr Tulpe keineswegs der Idiot war, für den ihn die restliche Welt
hielt. Gewisse negative Eigenschaften können eine Perfektion errei-
chen, die ihre Natur verändert, und Herr Tulpe hatte den Zorn in eine
Kunst verwandelt.
Es war kein Zorn auf etwas. Es war vielmehr reiner, platonischer
Zorn aus den verborgenen Reptilientiefen der Seele, aus einem Quel
unendlichen, glühend heißen Grolls. Herr Tulpe lebte sein Leben auf
jener dünnen Linie, auf der viele Leute schwanken, kurz bevor sie los-
stürmen und jemandem mit einem stumpfen Gegenstand den Schädel
einschlagen. Für Herrn Tulpe war es normal, zornig zu sein. Herr Nadel
fragte sich gelegentlich, was mit demjenigen passiert war, der solchen
Zorn in ihm geweckt hatte, doch für Herrn Tulpe war die Vergangen-
heit ein fremdes Land mit außerordentlich gut bewachten Grenzen.
Manchmal hörte Herr Nadel, wie er nachts schrie.
Es war ziemlich schwierig, die Dienste von Herrn Tulpe und Herrn
Nadel in Anspruch zu nehmen. Man musste die richtigen Leute kennen.
Besser gesagt: Man musste die falschen Leute kennen. Und man musste sie kennen lernen, indem man in gewissen Kneipen herumhing und
überlebte, was eine Art erster Test war. Die falschen Leute kannten
Herrn Tulpe und Herrn Nadel natürlich nicht. Aber sie kannten jeman-
den. Und dieser Jemand brachte auf sehr al gemeine Weise die vorsich-
tige Meinung zum Ausdruck, dass er viel eicht wusste, wie sich Kontak-
te mit Männern herstel en ließen, die sich durch nadelartige Veranla-
gung oder tulpolitische Tendenzen auszeichneten. An mehr konnte sich
Jemand derzeit nicht erinnern, weil er an akuter Gedächtnisschwäche
litt, verursacht von Geldmangel. Nach erfolgter Heilung mochte er im-
stande sein, eine andere Adresse zu nennen, wo man in einer dunklen
Ecke einem weiteren Jemand begegnen konnte, der ausdrücklich darauf
hinwies, nie etwas von Leuten namens Tulpe oder Nadel gehört zu
haben. Außerdem fragte er, wo man sich um, sagen wir, neun Uhr a-
bends aufhalten würde.
Und dann traf man Herrn Tulpe und Herrn Nadel. Sie wussten, dass
man Geld hatte. Sie wussten auch, dass man etwas erledigen lassen
wollte. Und wenn man sich sehr dumm angestellt hatte, wussten sie
außerdem, wo man wohnte.
Der letzte Kunde hingegen hatte sich direkt, ohne irgendwelche Um-
wege, an die Neue Firma gewandt, was eine ziemliche Überraschung
war. Herr Nadel hielt das für ebenso beunruhigend wie den Umstand,
dass besagter Kunde tot war. Für gewöhnlich hatte die Neue Firma
keine Probleme mit Leichen, solange sie schwiegen.
Herr Schräg hüstelte, was eine kleine Staubwolke erzeugte, wie Herr
Nadel feststellte. Herr Schräg war ein Zombie.
»Ich möchte noch einmal darauf hinweisen«, sagte Herr Schräg, »dass
ich in dieser Angelegenheit nur ein Vermittler bin…«
»So wie wir«, meinte Herr Tulpe.
Herr Schrägs Blick gab zu verstehen, dass er nie, nicht einmal in tau-
send Jahren, wie Herr Tulpe sein würde, doch er sagte: »Ja, in der Tat.
Meine Klienten äußerten den Wunsch, auf die Hilfe von… Experten
zurückzugreifen. Ich habe Kontakt mit euch aufgenommen. Ihr habt
versiegelte Anweisungen von mir bekommen. Ihr habt den Auftrag
angenommen. Und soweit ich weiß, habt ihr auf dieser Grundlage ge-
wisse… Vorbereitungen getroffen. Über die Art dieser Vorbereitungen
weiß ich nicht Bescheid, und ich werde auch in Zukunft nicht darüber
Bescheid wissen. Meine Beziehung zu euch
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