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Die volle Wahrheit

Die volle Wahrheit

Titel: Die volle Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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reflektierte Kerzenlicht wirkte wie ein trü-
    bes Glühen, das unter Wasser durch einen Tangwald drang.
    Herr Nadel hatte den Raum halb durchquert, als ihm klar wurde, dass
    er nur das Geräusch seiner eigenen Schritte hörte. Herr Tulpe hatte in
    der Düsternis einen anderen Kurs eingeschlagen und zog das Tuch von
    einem an der Wand stehenden Objekt.
    »Na, da sol mich doch…«, begann er. »Das ist ein …ter Schatz ! Ich dachte es mir! Ein echter …ter Intaglio Ernesto. Siehst du hier die Perl-muttarbeiten?«
    »Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, Herr Tulpe…«
    »Er hat nur sechs davon gebaut. O nein, es ist nicht einmal mehr rich-
    tig gestimmt !«
    »Bei den Göttern, wir wol ten hier als Profis auftreten…«
    »Vielleicht möchte dein… Kollege diesen Gegenstand als Ge-
    schenk?«, erklang eine Stimme aus der Mitte des Raums.
    Sechs Sessel standen am Rand des Kerzenscheins. Sie waren von der
    altmodischen Art: Die Rückenlehnen wölbten sich nach außen und
    oben, formten einen tiefen, ledrigen Bogen, der einst dazu gedient hat-
    te, Zugluft fern zu halten. Jetzt ermöglichten sie den Sitzenden, im
    Schatten verborgen zu bleiben.
    Herr Nadel hatte sich schon einmal an diesem Ort aufgehalten und
    bewunderte die Anordnung. Wer im Schein der Kerzen stand, sah
    nicht, wer in den Sesseln saß, war aber gleichzeitig selbst deutlich zu
    erkennen.
    Jetzt bemerkte Herr Nadel einen weiteren Aspekt: Die Sitzenden
    konnten sich gegenseitig nicht sehen.
    Herr Nadel war eine Ratte. Gegen diese Beschreibung hatte er nichts
    einzuwenden. Ratten verfügten seiner Ansicht nach über viele lobens-
    werte Eigenschaften. Und dieser Ort war von jemandem geplant wor-
    den, der in den gleichen Bahnen dachte wie er.
    Einer der Sessel sagte: »Dein Freund Narzisse…«
    »Tulpe«, sagte Herr Nadel.
    »Dein Freund Herr Tulpe möchte das Cembalo vielleicht als Teil der
    Bezahlung?«, fragte der Sessel.
    »Es ist kein …tes Cembalo, sondern ein …tes Tafelklavier«, knurrte
    Herr Tulpe. »Eine Saite pro Note anstatt zwei! Seinen Namen erhielt es,
    weil es ein Instrument für …te junge Damen war!«
    »Meine Güte, im Ernst?«, erwiderte einer der Sessel. »Ich hab’s für ei-
    ne Art frühes Klavier gehalten!«
    »Junge Damen sol ten darauf spielen «, sagte Herr Nadel glatt. »Und Herr Tulpe sammelt keine Kunstgegenstände. Er weiß sie nur zu…
    schätzen. Unsere Bezahlung erfolgt wie vereinbart in Edelsteinen.«
    »Wie du wünschst. Bitte tretet in den Kreis der Kerzen…«
    »…tes Cembalo«, brummte Herr Tulpe.
    Die Neue Firma trat in den Kreis der Kerzen und setzte sich den ab-
    schätzenden Blicken der Sitzenden aus.
    Die Sessel sahen Folgendes:
    Herr Nadel war klein, dünn und, wie sein Namensvetter, am Kopf ein
    wenig dicker. Wenn man ein zweites Wort benötigte, um ihn zu be-
    schreiben, so eignete sich »gediegen«. Er trank wenig, er achtete darauf,
    was er aß, und er hielt seinen leicht missgebildeten Körper für einen
    Tempel. Außerdem benutzte er zu viel Öl für sein Haar und trug einen
    vor zwanzig Jahren aus der Mode gekommenen Mittelscheitel. Sein
    schwarzer Anzug wirkte ein wenig schmierig, und seine kleinen Augen
    waren ständig in Bewegung, beobachteten al es.
    Herr Tulpes Augen waren kaum zu erkennen, was an einer gewissen
    Verschwollenheit lag, die auf zu viel Begeisterung für Dinge in Tüten
    zurückging.* Der Inhalt dieser Tüten war vermutlich auch für die Fle-
    cken auf der Stirn sowie mehrere deutlich hervortretenden Adern ver-
    antwortlich. Abgesehen davon gehörte Herr Tulpe zu den überaus kräf-
    tig gebauten Leuten, die den Eindruck erwecken, jeden Augenblick aus
    ihrer Kleidung herauszuplatzen. Trotz seiner künstlerischen Neigungen
    hätte man ihn für jemanden halten können, der sich sehr bemühen
    musste, um den Intelligenztest für Wrestler zu bestehen. Wenn sein
    Körper ein Tempel war, dann eine der Kultstätten, wo man im Kel er
    seltsame Dinge mit Tieren anstellte. Wenn er darauf achtete, was er aß,
    so wol te er nur beobachten, wie sich die Mahlzeit hin und her wand.
    Zweifel suchte einige der Sessel heim. Sie fragten sich nicht etwa, ob
    sie sich für die richtigen Maßnahmen entschieden hatten – daran konn-

    * Ein von Drogen verkleistertes Gehirn bietet einen schrecklichen Anblick, aber Herr Tulpe war ein lebender Beweis dafür, dass ein Cocktail aus für
    Pferde bestimmten Einreibemitteln, Brausepulver und zerriebenen Harnpillen ein Gehirn ebenfalls ziemlich

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