Die volle Wahrheit
viel
sind wir ihm schuldig.« Und: »Wir müssen in die Zukunft blicken.« Und
so ändern sich die Dinge, ganz leise. Ohne Aufsehen. Ohne große Auf-
regung.
Niemand sagte: Persönlichkeitsmord. Eine wundervol e Idee. Ge-
wöhnlicher Mord funktioniert nur einmal, aber solch ein Mord lässt
sich jeden Tag wiederholen.
Ein Sessel sagte: »Ich frage mich, ob Lord Witwenmacher oder auch
Herr Boggis…«
Ein anderer Sessel sagte: »Ach, ich bitte dich! Warum sol ten wir sie bemühen? Auf diese Weise ist es viel besser.«
»Ja, stimmt. Herr Pirsch bringt al e notwendigen Eigenschaften mit.«
»Er soll ein guter Familienvater sein.«
»Er hört auf die Stimme des gemeinen Volkes.«
»Aber hoffentlich nicht nur darauf.«
»O nein. Er nimmt gern Ratschläge entgegen. Besonders von gut in-
formierten… Fokusgruppen.«
»Sicher braucht er viele Ratschläge.«
Niemand sagte: Er ist ein nützlicher Idiot.
»Wie dem auch sei… Die Wache muss an die Kandare genommen
werden.«
»Mumm wird sich an die Anweisungen halten. Das muss er. Pirsch als Patrizier ist genauso legitim wie Vetinari. Mumm gehört zu den Leuten,
die einen Boss brauchen, weil sie dadurch legitimiert werden.«
Herr Schräg hustete. »Ist das alles, meine Herren?«, fragte er.
»Was ist mit der Ankh-Morpork-Times ?«, erkundigte sich ein Sessel.
»Entwickelt sich da ein Problem?«
»Die Leute finden sie amüsant«, erklärte Herr Schräg. »Und niemand
nimmt sie ernst. Der Kurier verkauft bereits doppelt so viele Exemplare, nach nur einem Tag. Und die Times ist unterfinanziert. Und sie hat Probleme mit, äh, dem Papiernachschub.«
»Eine interessante Geschichte im Kurier, über die Frau und die
Schlange«, sagte ein Sessel.
»Tatsächlich?«, erwiderte Herr Schräg.
Der Sessel, der zuvor die Times erwähnt hatte, schien noch immer besorgt zu sein.
»Mir wäre es lieber, wenn einige Jungs entschieden, die Druckerpresse
zu zertrümmern«, ließ er sich vernehmen.
»Das würde Aufmerksamkeit erregen«, wandte ein anderer Sessel ein.
»Die Times möchte Aufmerksamkeit. Der… Autor sehnt sich danach, zur Kenntnis genommen zu werden.«
»Na schön, wenn du darauf bestehst…«
»Es käme mir nie in den Sinn, darauf zu bestehen. Aber die Times wird scheitern«, sagte der Sessel, auf den al e anderen hörten. »Der junge
Mann ist auch Idealist. Er muss noch herausfinden, dass die Dinge, die
im öffentlichen Interesse sind, nicht unbedingt mit den Dingen über-
einstimmen, für die sich die Öffentlichkeit interessiert.«
»Könntest du das wiederholen?«
»Ich meine Folgendes: Die Leute glauben vermutlich, dass er gute
Arbeit leistet, aber sie kaufen den Kurier. Weil der interessantere Nachrichten bringt. Habe ich jemals erwähnt, Herr Schräg, dass eine Lüge
über die ganze Welt laufen kann, bevor die Wahrheit ihre Stiefel ange-
zogen hat?«
»Ziemlich oft, Herr«, erwiderte Schräg und ließ es dabei ein wenig an
seiner üblichen Diplomatie mangeln. Er merkte das sofort und fügte
hinzu: »Eine sehr bedeutsame Erkenntnis.«
»Gut.« Der wichtigste Sessel schniefte. »Behalt unsere… Handwerker
im Auge, Herr Schräg.«
Es war Mitternacht im Tempel von Om in der Straße der Geringen
Götter. Ein Licht glühte in der Sakristei. Es kam von einer Kerze in
einem schweren, verzierten Kerzenhalter, und in gewisser Weise schick-
te sie ein Gebet gen Himmel. Das Gebet stammte aus dem Evangelium
der Schurken und lautete: Lass niemanden herausfinden, dass wir die-
sen Kram klauen.
Herr Nadel suchte in einem Schrank.
»Ich finde nichts in deiner Größe«, sagte er. »Es sieht so aus, als…
Meine Güte, Weihrauch dient dazu, verbrannt zu werden.«
Herr Tulpe nieste, und Sandelholzsplitter klatschten an die gegenü-
berliegende Wand.
»Das hättest du mir …t gleich sagen sol en«, brummte er. »Ich hab
Papier dabei.«
»Hast du erneut den Ofenreiniger probiert?«, fragte Herr Nadel in
vorwurfsvol em Tonfal . »Ich möchte, dass du einen klaren Kopf be-
hältst, verstanden?«
Die Tür öffnete sich knarrend, und ein älterer Priester betrat den
Raum. Herr Nadel griff instinktiv nach dem Kerzenhalter.
»Hallo?«, fragte der Alte und blinzelte im Licht. »Seid ihr wegen des
Mitternachtsgottesdienstes gekommen?«
Herr Tulpe hielt Herrn Nadels Arm fest, als dieser den Kerzenhalter
heben wol te.
»Bist du verrückt?«, knurrte er. »Was bist du nur für eine Person?«
»Wie bitte? Wir können ihn doch
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