Die volle Wahrheit
die Überschrift«, sagte Gutenhügel,
als William fertig war. »Ich schätze, es wird ein ziemlicher Schock für
die Leute. Möchtest du noch etwas hinzufügen? Fräulein Sacharissa hat
etwas über Lady Selachi s Bal , dazu kommen einige kleinere Texte.«
William gähnte. In letzter Zeit schien er kaum Schlaf zu bekommen.
»Bring sie ebenfalls«, sagte er.
»Und dann wäre da noch diese Semaphor-Mitteilung aus Lancre«,
meinte der Zwerg. »Sie traf ein, als du nach Hause gegangen bist. Der
Kurier kostet uns zusätzliche fünfzig Cent. Erinnerst du dich, dass du
heute Nachmittag eine Nachricht geschickt hast? Über Schlangen?«,
fügte Gutenhügel hinzu, als er Williams verdutzten Gesichtsausdruck
sah.
William nahm den Zettel entgegen und las. Geschrieben war die Mit-
teilung in der sorgfältig-säuberlichen Handschrift des diensthabenden
Semaphoristen. Vermutlich handelte es sich um die seltsamste Nach-
richt, die jemals mit Hilfe der Signaltürme übertragen worden war.
König Verence von Lancre hatte seine Botschaft der Tatsache ange-
passt, dass Semaphor-Nachrichten pro Wort bezahlt wurden.
FRAUEN VON LANCRE BRINGEN KEINE WIEDERH KEINE
SCHLANGEN ZUR WELT STOP IN DIESEM MONAT GEBO-
RENE KINDER WILLIAM WEBER KONSTANZE DACHDE-
CKER KATASTROPHE FUHRMANN ALLE MIT ARMEN UND
BEINEN OHNE SCHUPPEN UND GIFTZÄHNE
»Ha!«, freute sich William. »Damit wischen wir dem Kurier eins aus. Gib mir fünf Minuten, um einen kurzen Artikel zu schreiben. Bald wird sich
herausstel en, ob das Schwert der Wahrheit den Drachen der Lügen
besiegen kann.«
Boddony bedachte ihn mit einem sanften Blick. »Hast du nicht gesagt,
dass eine Lüge über die ganze Welt laufen kann, bevor die Wahrheit
ihre Stiefel angezogen hat?«, fragte er.
»Aber dies ist die Wahrheit .«
»Ach? Und wo sind ihre Stiefel?«
Gutenhügel nickte den anderen Zwergen zu, die gähnten. »Legt euch
schlafen, Jungs. Ich setze alles.«
Er beobachtete, wie sie über die Leiter in den Keller zurückkehrten.
Dann setzte er sich, holte eine kleine silberne Tabatiere hervor und
öffnete sie.
»Möchtest du?« Er bot die Tabatiere William an. »Das Beste, was die
Menschen je erfunden haben. Ruberts Rote Röstmischung. Schafft so-
fort einen klaren Kopf. Nein?«
William lehnte ab.
»Warum tust du dies alles, Herr de Worde?«, fragte Gutenhügel. Er
schnupfte mit beiden Nasenlöchern jeweils eine enorme Menge.
»Was meinst du?«
»Ich will keineswegs behaupten, dass wir es nicht zu schätzen wissen,
ganz im Gegenteil«, sagte Gutenhügel. »Immerhin verdienen wir Geld
damit. Die Akzidenzdrucke werden immer weniger. Offenbar haben
al e Graveure in der Stadt nur darauf gewartet, endlich drucken zu kön-
nen. Wir haben den jungen Burschen nur einen Vorwand geboten.
Früher oder später drängen sie uns ganz aus dem Geschäft. Sie haben
ganz einfach eine bessere finanziel e Basis. Um ganz ehrlich zu sein:
Einige von uns spielen bereits mit dem Gedanken, al es zu verkaufen
und zu den Bleiminen zurückzukehren.«
»Das könnt ihr nicht!«
»Nun«, erwiderte Gutenhügel, »du meinst sicher, das möchtest du nicht, was ich durchaus verstehe. Wir haben Geld auf die hohe Kante gelegt,
es sol te also keine Probleme geben. Vermutlich können wir die Presse
jemandem verkaufen, was bedeutet: Wir kehren gewiss nicht mit leeren
Taschen heim. Darum ging es uns von Anfang an. Ums Geld. Und
worum geht es dir?«
»Mir? Ich…« William zögerte. Die Wahrheit lautete, dass er nie eine
bewusste Entscheidung getroffen hatte. Eins führte zum anderen, und
die Presse wol te gefüttert werden. Sie wartete auch jetzt. Man arbeitete
hart und fütterte sie, und eine Stunde später war sie wieder hungrig,
während draußen in der Welt das Ergebnis der Bemühungen in Rich-
tung Behälter sechs auf Pisse-Pauls Hof unterwegs war – womit die
unangenehme Reise erst begann. Plötzlich hatte er einen richtigen Job mit einer Arbeitszeit, doch das Resultat seiner Anstrengungen war nicht
realer als eine Sandburg auf einem Strand, der jederzeit von der Flut
überspült werden konnte.
»Ich weiß nicht«, gestand er. »Vielleicht schreibe ich, weil ich mich
nur damit auskenne. Und weil ich mir nicht vorstel en kann, einer ande-
ren Arbeit nachzugehen.«
»Aber ich habe gehört, dass du aus einer sehr reichen Familie
stammst.«
»Ich bin zu nichts nütze, Herr Gutenhügel. Ich wurde dazu erzogen,
zu nichts nütze zu sein. Von Leuten wie mir hat
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