Die volle Wahrheit
man immer nur ver-
langt, dass sie warten, bis es irgendwo zu einem Krieg kommt – um
dann ein Beispiel für unglaublich dumme Tapferkeit zu bieten und zu
sterben. Unsere Hauptbeschäftigung bestand darin, an Dingen festzu-
halten. Vor allem an Ideen.«
»Du scheinst davon nicht viel zu halten.«
»Mir liegt nicht unbedingt etwas daran, mein Herz auszuschütten, ver-
stehst du? Mein Vater ist nicht besonders nett. Muss ich dir Einzelhei-
ten nennen? Er mag mich nicht besonders, und ich mag ihn nicht be-
sonders. Es scheint überhaupt kaum jemanden zu geben, den er mag.
Zwerge und Trolle verabscheut er mehr als al e anderen.«
»Es ist nicht gesetzlich vorgeschrieben, Zwerge und Trol e zu mö-
gen«, sagte Gutenhügel.
»Ja, aber es sollte gesetzlich verboten sein, ihnen die Art von Abnei-
gung entgegenzubringen, wie es mein Vater tut.«
»Ah, du hast gerade ein Bild für mich gemalt.«
»Ist dir jemals der Begriff ›minderwertige Rassen‹ zu Ohren gekom-
men?«
»Und jetzt hast du dem Bild Farbe hinzugefügt.«
»Inzwischen lehnt er es sogar ab, in Ankh-Morpork zu wohnen. Er
meint, die Stadt sei verschmutzt.«
»Wie aufmerksam von ihm.«
»Nein, damit meint er…«
»Ich weiß, was er meint«, sagte Gutenhügel. »Ich habe Menschen wie
ihn kennen gelernt.«
»Du hast eben gesagt, euch sei es von Anfang an ums Geld gegangen.
Stimmt das?«, fragte William.
Der Zwerg nickte in Richtung der Bleibarren, die neben der Presse
aufgestapelt waren. »Wir wollten Blei in Gold verwandeln«, sagte er.
»Wir haben viel Blei. Aber wir brauchen Gold.«
William seufzte. »Mein Vater behauptete immer wieder, dass Zwerge
nur an Gold denken.«
»Nun, wir denken ziemlich oft daran.« Gutenhügel schnupfte erneut.
»Aber in einem Punkt irren sich die Leute… Wenn ein Mensch nur an
Gold denkt, so ist er ein Gierhals. Aber wenn ein Zwerg an Gold denkt,
ist er nur ein Zwerg. Siehst du den Unterschied ? Wie nennst du die schwarzen Menschen, die in Wiewunderland leben?«
»Ich weiß, wie mein Vater sie nennt«, sagte William. »Ich nenne sie
›Menschen, die in Wiewunderland leben‹.«
»Tatsächlich? Offenbar gibt es einen Stamm, in dem Folgendes üblich
ist: Bevor ein Mann heiraten kann, muss er einen Leoparden töten und
das Fel der Frau schenken. Bei uns verhält es sich ähnlich. Ein Zwerg
braucht Gold, um zu heiraten.«
»Was, wie eine… Aussteuer? Aber ich dachte, Zwerge unterscheiden
nicht zwischen…«
»Nein, nein, die beiden heiratenden Zwerge kaufen sich gegenseitig
den Eltern ab.«
»Wie bitte?«, entfuhr es William. »Wie kann man Personen abkaufen ?«
»Siehst du? Hier liegt erneut ein kulturelles Missverständnis vor. Es
kostet viel Geld, einen jungen Zwerg bis zum heiratsfähigen Alter
großzuziehen. Essen, Kleidung, Kettenhemden… Im Lauf der Jahre
kommt eine stattliche Summe zusammen. Sie muss erstattet werden.
Immerhin bekommt der andere Zwerg eine wertvol e Ware. Und es
muss in Gold bezahlt werden. So verlangt es die Tradition. Edelsteine werden ebenfal s akzeptiert. Der Ausdruck ›sein Gewicht in Gold wert‹
ist dir sicher bekannt. Wenn ein Zwerg für seine Eltern gearbeitet hat,
wird das natürlich berücksichtigt. Ein Zwerg, der erst spät heiratet,
kann vermutlich einen hohen Lohnanspruch vorweisen… Du siehst
mich noch immer seltsam an…«
»Weißt du, bei uns ist das ganz anders…«, murmelte William.
Gutenhügel bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Tatsäch-
lich? Und wie geht ihr vor?«
»Äh… mit Dankbarkeit, nehme ich an«, sagte William. Er wol te das
Gespräch beenden, und zwar sofort. Es führte ihn auf dünnes Eis.
»Und wie wird sie berechnet?«
»Nun… eigentlich berechnet man sie gar nicht…«
»Verursacht das keine Probleme?«
»Manchmal schon.«
»Ah. Nun, auch wir kennen Dankbarkeit. Aber durch unsere Methode
beginnt ein Paar sein Leben in einem Zustand, den wir… g’daraka nennen. Sie sind, äh, frei und unbelastet, können ihr gemeinsames Leben
als neue Zwerge führen. Anschließend entscheiden die Eltern vielleicht, ihnen ein Hochzeitsgeschenk zu machen, das viel größer ist als eine
Mitgift. Aber dies geschieht von Zwerg zu Zwerg, aus Liebe und Re-
spekt, nicht zwischen Schuldner und Gläubiger – wobei ich darauf hin-
weisen muss, dass menschliche Worte ungeeignet sind, diese Sache zu
beschreiben. Bei uns funktioniert es, und zwar seit Tausenden von Jah-
ren.«
»Ich glaube, für Menschen klingt
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