Die volle Wahrheit
wussten, dass Golems niemandem ein
Leid zufügen konnten.
Die Entstehung der Golem-Feuerwehr bleibt rätselhaft. Manche Leu-
ten meinten, die ursprüngliche Idee sei von der Wache gekommen, aber
nach der al gemeinen Theorie wol ten Golems die Verletzung von Per-
sonen und die Zerstörung von Eigentum einfach nicht zulassen. Mit
gespenstischer Disziplin und ohne erkennbare Kommunikation kamen
sie von al en Seiten, wenn irgendwo ein Feuer ausbrach. Dann retteten
sie in brennenden Wohnungen gefangene Menschen, stapelten sorgfäl-
tig alle mobilen Besitztümer auf, formten eine Eimerkette, bei der sich
die Eimer so schnel bewegten, dass sie nur noch schemenhaft zu er-
kennen waren, traten die letzte Glut aus – und kehrten danach schnel
zu ihren Aufgaben zurück.
Diese vier Golems eilten zu einem Feuer in der Sirupminenstraße.
Flammenzungen leckten aus Fenstern im ersten Stock.
»Bist du von der Zeitung?«, fragte ein Mann in der Menge.
»Ja«, bestätigte William.
»Nun, ich schätze, dies ist ein weiterer Fall eines geheimnisvollen
spontanen Feuers, wie das, von dem ihr gestern berichtet habt«, sagte
der Mann und reckte den Hals, um zu sehen, ob William alles mit-
schrieb.
William stöhnte. Sacharissa hatte sehr sachlich von einem Feuer am
Hohen Schlag berichtet, bei dem ein armer Kerl gestorben war. Der
Kurier hingegen hatte in diesem Zusammenhang von einem »Geheim-
nisvollen Feuer« gesprochen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Feuer wirklich so geheimnisvoll
war«, sagte William. »Der alte Herr Hardi zündete sich eine Zigarre an
und vergaß dabei, dass er seine Füße in Terpentin badete.« Offenbar
hatte ihm jemand gesagt, das sei ein gutes Mittel gegen Fußpilz. In ge-
wisser Weise stimmte das auch.
»So heißt es jedenfal s«, erwiderte der Mann und klopfte sich an die Nase. »Aber es gibt viele Dinge, die man uns verschweigt.«
»Das stimmt«, meinte William. »Gestern habe ich gehört, dass jede
Woche gewaltige Felsbrocken mit einem Durchmesser von mehreren
hundert Meilen vom Himmel fallen, aber der Patrizier vertuscht alles.«
»Na bitte«, sagte der Mann. »Es ist erstaunlich. Man behandelt uns
wie Dummköpfe.«
»Ja, mich verblüfft das ebenfalls«, kommentierte William.
»Platz da, Platz da, bitte!«
Otto bahnte sich einen Weg durch die Menge und wankte unter dem
Gewicht eines Objektes, dessen Größe und Form an ein Akkordeon
erinnerten. Immer wieder stieß er mit den Ellenbogen zu, stellte sein
Stativ auf, befestigte das akkordeonartige Ding daran und richtete es auf
einen Golem, der mit einem kleinen Kind aus einem qualmenden Fens-
ter kletterte.
»Na schön, Jungs, das wirrd ein Superrbild!« Er hob den Blitzkäfig.
»Eins, zwei, drrei… aarrghaarrghaarrghaarrgh…«
Der Vampir verwandelte sich in eine Wolke aus Staub, die langsam zu
Boden sank. Für einen Augenblick schwebte etwas in der Luft. Es sah
wie ein kleines Glas an einem Bindfaden aus.
Dann fiel es zu Boden und zerbrach auf dem Kopfsteinpflaster.
Der Staub wuchs nach oben, gewann Konturen… und Otto stand da,
blinzelte und betastete seinen Leib, um sich zu vergewissern, dass
nichts fehlte. Er bemerkte William und schenkte ihm jenes große, breite
Lächeln, zu dem nur Vampire imstande sind.
»Herrr William! Deine Idee… Sie funktionierrt!«
»Äh… welche meinst du?«, fragte William. Ein dünner, gelber Rauch-
faden kroch unter dem Deckel des Ikonographen hervor.
»Du meintest, ich sol te einen kleinen Vorrrat an B-Worrt bei mirr
trragen, fürr den Notfal «, antwortete Otto. »Ich dachte mirr: Wenn ich
es in einerr kleinen Flasche um den Hals trrage, und wenn ich dann zu
Staub zerrfal e – hoppla! Die Flasche zerrbricht, und schon bin ich wie-
derr da!«
Er hob den Deckel des Ikonographen und fächelte den Rauch beisei-
te. In dem Apparat schien jemand ganz leise zu husten. »Und wenn ich
mich nicht sehrr irrre, haben wirr hierr ein errfolgrreich geätztes Bild.
Ein weiterrerr Beweis dafürr, was man al es errreichen kann, wenn man
sich nicht von Gedanken an offene Fensterr und nackte Hälse ablenken
lässt, aberr an so etwas denke ich jetzt garr nicht mehrr, denn ich bin
völlig geheilt.«
Otto hatte einige Veränderungen an seiner Kleidung vorgenommen.
Er trug jetzt nicht mehr den von seiner Spezies bevorzugten schwarzen
Abendanzug, sondern eine armlose Weste mit mehr Taschen, als Wil i-
am jemals an einem Kleidungsstück gesehen hatte. In vielen
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