Die Wacholderteufel
Warum?»
«Das steht heute auf dem Programm. Wir könnten ganz nach oben steigen und dann hinunterspucken.»
«Klingt gut. Aber …»
«Was ist?»
«Ich muss noch den blöden Text auswendig lernen. Für das Theaterstück morgen. So was kann ich leider nur halb so gut wie Arschbomben.»
«Dann werden wir die Busfahrt dazu nutzen», schlug Wencke vor.
Mattis war damit einverstanden. Wencke kam mit auf sein Zimmer und half ihm dabei, frische Kleidung herauszusuchen. Der Kleiderschrank sah sehr ordentlich aus, auf den Bügeln hingen akkurat die Hosen und Pullover von Nina und ihrem Sohn. Nur die hellblaue Strickjacke, in der gestern der Zeitungsartikel gesteckt hatte, konnte Wencke nicht entdecken.
«Mattis, ich will ja nicht neugierig sein, aber weißt du zufällig, welche Kleidungsstücke deiner Mutter hier im Schrank fehlen, außer der Strickjacke natürlich?»
Er stellte sich neben sie und zog sich umständlich eine Jeanshose über. «Ich weiß, sie hatte drei Hosen und drei Pullover dabei, genau wie ich. Weil mehr nicht in einen Koffer gegangen wäre. Und die Winterjacke. Aber das ist alles noch da!»
«Überleg doch mal genau: Was könnte deine Mutter jetzt gerade anhaben?»
Er fuhr mit den Fingern über die verschiedenen Stapel, dann ging er zum Bett und schaute unter die Decke. Er gab einen guten Detektiv ab. «Wenn mich nicht alles täuscht, fehlt sonst nur der Schlafanzug.»
«Wirklich? Alles andere ist da?»
Er überprüfte nochmals. «Ich bin mir ziemlich sicher. Außerdem ist es ja auch logisch, schließlich ist meine Mutter in der Nacht verschwunden. Da hatte sie ihren weißen Pyjama an. Ich glaube nicht, dass sie sich vorher umgezogen ist, davon wäre ich sicher aufgewacht.»
«Hatte sie vielleicht einen Bademantel?», fragte Wencke, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand im Dezember lediglich mit Schlafanzug und Baumwolljäckchen bekleidet spazieren ging.
Mattis schüttelte den Kopf und schaute auf seine Armbanduhr. «Wir müssen los, der Bus zum Hermannsdenkmal fährt in zehn Minuten.»
Sie beeilten sich und trafen gerade rechtzeitig, noch immer mit feuchtem Haar, um halb drei beim Treffpunkt vor der Klinik ein. Sie stiegen dort in den Kleintransporter zu den sechs anderen Frauen, die sich auf die Teutoburger Höhen zum heroischen Denkmal chauffieren ließen.
Irgendwie kamen beide jedoch nicht wie verabredet zum Textlernen. Es gab so viel zu begucken auf der kurzen Fahrt. Uralte Fachwerkhöfe rechts der Bundesstraße, Burger King am Ortseingang von Detmold, in der Ferne – kaum erkennbar in den tief liegenden Wolken – schon das Hermannsdenkmal. Schließlich waren sie da, und Mattis hatte seine Kopien nicht einmal aus dem Rucksack geholt. Der Fahrer ließ sie auf einem leeren Parkplatz aussteigen. Alle verabredeten sich, in zwei Stunden wieder hier zu sein, und stoben auseinander. Nur Wencke und Mattis standen noch einen Moment auf dem von Nieselregen in ungemütliches Grau gefärbten Platz, schauten sich die wenigen verlassenen Autos an. Wer wollte schon im Winter so wenige Tage vor Weihnachten diesen Ort hier besuchen? Wo es doch eigentlich nicht viel mehr als einen überdimensionalen Mann aus Kupferblech zu bestaunen gab. Vorihnen ging ein Fußweg leicht bergauf. Einige Souvenirshops standen verlassen hier und da. Bei einem waren die Holzläden nicht verschlossen. Eine gelangweilte Frau mit Strickzeug saß hinter der Scheibe und erschrak ein wenig, als Wencke grüßte.
«Haben Sie eine Infobroschüre?»
Mit einem freundlichen Nicken reichte sie ein Faltblatt durch das Fenster. «Kann ich noch was für Sie tun?»
Um die Dame herum war das graue Denkmal in allen erdenklichen Souvenir-Variationen zu sehen: Es gab den Hermann in einer weihnachtlichen Schneekugel, auf Bierkrügen und Fahnenwimpeln. Die Figur mit dem Flügelhelm und dem siegessicher in die Höhe gestreckten Arm prangte auf T-Shirts , die in mehreren Sprachen darauf hinwiesen, dass man sich hier an einem bedeutenden Ort befand.
«Nein danke, vielleicht später.»
Mattis zögerte. «Aber ich …» Er kramte seinen Brustbeutel hervor und suchte umständlich nach Kleingeld. Wencke musste an sich selbst denken, als sie noch ein Mädchen war und auf Klassenfahrten das magere, penibel abgezählte Taschengeld zu verwalten hatte, wenn die angebotenen Souvenirs allzu verlockend schienen.
Er hielt einen Porzellanteller in der Hand und las die Inschrift: «An diesem schönen Orte hab ich an dich gedacht und
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