Die Wacholderteufel
lagen unter einem kleinen Holzdach jede Menge Leitern in den verschiedensten Ausführungen. Er würde heute Abend bei Achim anfragen, ob er sie benutzen durfte. Und sich gleichzeitig bedanken, dass ihm der Förster so gut zur Seite stand. Der Gang durch den weichen Waldboden hatte sich also in jedem Fall gelohnt, freute sich Stefan. Prima Holz, den Schlüssel griffbereit und eine ganze Ecke weniger Schlepperei. Stefan ging zufrieden durch die Hütte zum Waldweg zurück und schloss die Tür. Er starrte auf den Weg und wusste erst nicht genau, was ihn eigentlich irritierte. Bis er bemerkte, dass außer seinen Stiefelspuren noch weitere frische Abdrücke im Matsch zu sehen waren, die zur Lagerhalle führten.
«Ist hier jemand?», rief er vorsichtshalber, schließlich wollte er nicht aus Versehen jemanden im Holzlager einsperren. Doch niemand meldete sich. Das Knacken im Unterholz rechtsdes Weges nahm er wahr. «Hallo?», rief er nochmal. Die Bäume ringsherum schluckten seinen Ruf und antworteten mit Schweigen. «Hallo?»
Es gab im Wald so viele Geräusche, kleine akustische Details in der Stille zwischen den Büschen und Bäumen. Ein sattes Tropfen – «platsch-platsch» – auf den kleinen Findling am Wegrand. Ein Vogelruf, allein und winterlich, irgendwo da oben. Dann nochmal das Knacken im Waldboden, etwas weiter weg. Stefan ging los. Das Schmatzen seiner Stiefel war lauter als die Töne des Waldes.
20
«Fahren wir zusammen zum Hermannsdenkmal?», fragte Wencke.
Der Junge hatte ihr Leid getan. Als der Platz seiner Mutter beim Mittagessen noch immer frei geblieben war, hatte Mattis mit den Tränen kämpfen müssen. Zur Ablenkung hatte Wencke ihn mit ins Schwimmbad genommen. Nicht nur zu seiner Ablenkung, wenn Wencke ehrlich war. Die Stunde bei Ilja Vilhelm hatte ihr wieder einmal zugesetzt. Noch nie hatte Wencke so lang und ausführlich über ihren Vater gesprochen, über einen Mann, den sie im Prinzip nicht kannte. Und von dem sie doch vielleicht einige Charaktereigenschaften vererbt bekommen hatte. Und die anderen Züge suchte sie bei ihren Partnern. Bei Ansgar, bei Axel Sanders, vielleicht auf ganz merkwürdige Weise auch bei so manchem Verbrecher. Der Vater hatte in ihrem Leben schon immer eine Rolle gespielt, wahrscheinlich sogar eine Hauptrolle, nur dass er nie auf der Bühne ihres Daseins erschienen war.
«Lassen Sie sich Zeit, darüber nachzudenken», hatte Vilhelm ihr geraten. «Und verlieren Sie Ihre zukünftige Mutterrolle dabei nicht aus den Augen. Schließlich sollten Sie sich bewusst darüber sein, dass auch Ihr Kind wahrscheinlich ohne anwesenden Vater groß werden wird.»
Wie gut hatte es getan, gemeinsam mit Mattis die ganze Sache erst einmal zu vertagen. Es war eine lustige Stunde mit ihm im Schwimmbad gewesen. Mattis konnte mit seinem Hinterteil jede Menge Wasser verdrängen, wenn er verbotenerweise vom Beckenrand sprang.
«Ich bin der Arschbombenkönig», hatte er gejohlt. Die Brillenschlange, die emsig ihre Bahnen auf und ab schwamm, hatte sich nicht besonders amüsiert. Was für Wencke und Mattis natürlich ein besonderer Reiz gewesen war, es auf die Spitze zu treiben. Weitspucken mit Chlorwasser, Handstand mit Luftanhalten, aus einer der Ruheliegen eine Wasserrutsche bauen. Wencke konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so viel Spaß gehabt hatte. Der kleine, dicke Junge weckte etwas in ihr. Es war erstaunlich. In einer ruhigen Minute sah sich Wencke das erste Mal mit ihrem eigenen Kind Unfug treiben, ihr inneres Auge zeigte Bilder, auf denen sie um die Wette rannte, bei McDonald’s Hamburger futterte und mit Gas gefüllte Luftballons steigen ließ. Sie entdeckte eine andere Wencke. Sie war aufgeregt. Und im Stillen dankte sie Mattis dafür, dass er ihr – trotz der unglücklichen Umstände – ein wenig vom Muttersein beibrachte.
Deswegen fiel es ihr nicht schwer, als sie beide sich gerade abgetrocknet und angezogen hatten, ihm vorzuschlagen, auch den Rest des Tages miteinander zu verbringen.
Zudem hoffte Wencke, ein wenig über Nina zu erfahren. An der Rezeption hatte man ihr lediglich mitgeteilt, dass man immer noch nichts über ihren Verbleib gehört habe, doch dass die Polizei der Sache nachginge. Wencke stellte sicher, dass sie dieKarte mit der Handynummer ihres Bad Meinberger Kollegen noch immer in der Jackentasche hatte. Sie war drauf und dran, einmal von der Telefonzelle aus anzurufen und nachzufragen. Sie war nach wie vor beunruhigt.
«Zum Hermannsdenkmal?
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