Die Wacholderteufel
Gesichter hatte und dass beide überzeugend waren. Wahrscheinlich hatte sie Sorge, er würde ihre Vorwürfe – sollte sie sich bei entsprechenden Stellen melden – auf links drehen und zu Lügen abstempeln. Er wirkte sehr überzeugend, und alles sah danach aus, dass Pelikan seiner Frau nicht nur von der Statur, sondern auch vom Intellekt überlegen war. Zumindest musste Nina das Gefühl gehabt haben, ihm nicht das Wasser reichen zu können.Und was das Schlimmste war: Irgendwann musste sie angefangen haben, die Drangsalierung als Normalität zu empfinden. Wencke kannte nicht wenige Fälle, in denen Frauen zu Hause die schlimmsten Unterdrückungen hingenommen hatten und dennoch ihren Peinigern glaubten, es sei alles halb so wild. Weil sie innerlich schon den Glauben verloren hatten, sie seien es wert, respektvoll behandelt zu werden.
Nina musste sich einen anderen Weg aus ihrem Unglück suchen. Deswegen hatte sie eine Kur beantragt, allem Anschein nach heimlich. Es war bestimmt nicht Ninas Absicht gewesen, von der Krankenkasse ausgerechnet nach Bad Meinberg geschickt zu werden, von wo sie schon einmal Hals über Kopf hatte flüchten müssen. Aber sie hatte es in Kauf genommen, um dann, schon nach zwei Tagen, das Weite zu suchen. Die Tatsache, dass sie Mattis zurückgelassen hatte, sprach dafür, dass sie unter enormem Druck gestanden haben musste. Hatte Sie Angst? Und sie war im Schlafanzug unterwegs, ein weiteres Indiz, dass ihre Flucht spontan geschehen war. Vielleicht hatte sie irgendwie herausgefunden, dass ihr Mann in Bad Meinberg war und nach ihr suchte. Dennoch konnte Wencke sich nicht vorstellen, dass Nina sich allzu weit entfernt hätte. Auch wenn sie anscheinend Vertrauen zu Wencke gefasst hatte und ihr den Sohn ein paar Tage überließ, sie konnte nicht über alle Berge verschwunden sein. Ohne vernünftige Klamotten am Leib schon gar nicht. Das musste es sein: Sie war aller Wahrscheinlichkeit nach ganz in der Nähe. Und sie wusste, wo sie hingehen konnte und wo man sie nicht vermutete. Schließlich kannte sie sich in dieser Gegend gut aus. Es war ihre Heimatstadt, sie hatte so vieles gewusst und erzählt. Über die Finanzmisere, verschuldet durch die Gesundheitsreform, erkennbar in den leer stehenden Kliniken. Ganz in der Nähe, ging es Wencke immer wieder durch den Kopf. Nina würde Mattis nie allein lassen.
Die Lippe-Klinik, fiel es Wencke ein. Der große, finstere Betonklotz zwischen dem Yoga-Zentrum und der
Sazellum - Klinik
. Hatte Nina nicht erwähnt, das Gebäude stehe leer und solle abgerissen werden? Wencke blieb stehen. Natürlich, wenn sie an Ninas Stelle gewesen wäre, sie hätte sich dort einen Unterschlupf gesucht. Bis heute Vormittag waren die Temperaturen ja auch noch erträglich gewesen, man hätte es auch ohne Heizung ausgehalten. Aber inzwischen waren es sicher unter null Grad. Und wenn Nina tatsächlich nur dürftig bekleidet irgendwo dort in diesem schaurigen Haus saß, dann musste sie erbärmlich frieren. Und es lag in Wenckes Hand, ob und wie sich das Ausharren gelohnt hatte.
«Ich mache Ihnen einen Vorschlag», sagte Wencke. Pelikan drehte sich um. Er hatte gar nicht bemerkt, dass Wencke nicht mehr neben ihm lief.
«
Sie
machen
mir
einen Vorschlag?» Er äffte ihren Tonfall nach und kam drohend auf sie zu.
«Ich will wissen, was Sie im Schilde führen. Ich will das Unglück, von dem Sie die ganze Zeit sprechen, verhindern.»
«Der Vorschlag ist schlecht, mir fehlt die Gegenleistung …»
«Ich habe eine Idee, wo Nina stecken könnte. Nur eine vage Vermutung, aber ich würde Ihnen beim Suchen helfen.»
Er stieß verächtlich die Luft aus. «Sehr großzügig, Ihr Angebot!»
«Hören Sie, Pelikan, was auch immer Sie vorhaben, es macht die Sache doch nicht anders, als sie ist: Ich weiß nicht, wo Nina steckt. Ich kann Ihnen Nina und Mattis nicht zurückgeben. Ich kann auch nicht ungeschehen machen, was Sie sich gegenseitig in Bremen angetan haben.»
«Und was können Sie überhaupt?»
«Ich kann nur meiner Intuition folgen.»
«Das ist lachhaft!»
«Aber es hat mich bislang in meinem Leben immer weit gebracht. Wenn Sie meine Akten studiert haben, müssten Sie wissen, dass ich Ihnen keine Märchen erzähle.»
Er neigte den Kopf hin und her. Pelikan dachte nach, wägte ab. Für und wider. Ganz der strategisch denkende Tyrann, fiel es Wencke ein. Doch nun spielte sie mit denselben Karten. Natürlich, es entsprach wirklich nicht Wenckes Naturell, mit dem Verstand zu
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