Die Wacholderteufel
den Händen dieses Mannes gelegen wie ein billigerGroschenroman. Vielleicht war das Wissen, dass Pelikan in ihrem Leben herumgeschnüffelt hatte, der Grund für ihre verschobene Wahrnehmung. Wencke war nicht in der Lage, ihn zu durchschauen.
«Immer reden Sie von einem Unglück. Wenn ich nicht meine Klappe halte, wenn wir nicht Ihre Frau finden, wenn sich nicht die Welt auf einmal andersherum dreht, dann …» Wencke machte eine Geste, die unterstreichen sollte, für wie aufgeblasen sie sein Getue hielt. «… dann geschieht ein Unglück.»
Pelikan blieb stehen und ließ zu Wenckes Überraschung ihr Handgelenk los. Die Stelle, die er so heftig gedrückt hatte, pulsierte brennend. «Ich kann Ihnen sagen, was für ein Unglück ich meine!» Mit seiner rechten Hand fühlte er in der Tasche seiner grauen Windjacke, dann zog er umständlich eine Plastikflasche hervor, milchig weiß mit schwarzem Schraubverschluss. Auf dem Etikett waren etliche chemische Begriffe zu lesen. Wencke kannte sich zwar in Naturwissenschaften grundsätzlich gar nicht aus, doch mit drei Aufschriften konnte sie etwas anfangen: Sie kannte das Zeichen für «ätzend» – die Hand mit dem Loch, auf das ein Tropfen fiel –, für «Gift» – den Totenkopf verstand jedes Kind –, und sie kannte das Wort «Chlor». Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was Pelikan ihr damit sagen wollte. Hinter der Flasche rutschte ein Schlüssel hervor. Pelikan steckte ihn zurück in die Tasche, aber Wencke hatte entziffern können, dass auf dem blauen Schlüsselanhänger «Eingang Externsteine» gestanden hatte.
30
Mattis war verzweifelt. Er stand oben auf halber Höhe des Felsens direkt an der geschwungenen Brücke. Man hatte ihnen eine kleine Sitzbank hingestellt, und Joy-Michelle saß mit angezogenen Beinen, die in eine Wolldecke gehüllt waren, dort und wartete. Sobald er gefunden hatte, was er suchte, wollte er sich neben seine Freundin setzen, sicher war es wärmer, wenn man eng nebeneinander unter einer Decke steckte. Wieder und wieder suchte Mattis mit den Augen die Gesichter im Publikum ab. Keine von beiden war da, und das tat weh. Nun, das seine Mutter nicht kommen würde, damit hatte er sich schon irgendwie abgefunden. Aber dass er keine Spur von Wencke ausmachen konnte, brachte ihn total durcheinander. Wäre sie hier, dann hätte sie sich sicher ganz vorn in eine der ersten Reihen gestellt, weil sie doch wusste, dass er auf sie warten würde. Aber so oft er auch von links nach rechts und wieder umgekehrt schaute, er sah keine Wencke. Und es war schon fünf Uhr. Er musste aufpassen, dass er nicht losheulte.
Unten stand ein bärtiger Mann und sang mit tiefer Stimme ein Lied von den Bergen. Frau Möller hatte ihnen gerade das Zeichen gegeben, dass sie als Nächste an der Reihe waren. Der Wacholderteufel war schon damit beschäftigt, die Sicherheitsleine an seinem Gürtel zu befestigen. Sobald der Mann über das Geländer gestiegen war, würde der Auftritt beginnen. Und er, Mattis, war mit dem ersten Satz dran.
«Ich bin ein armes Teufelskind.»
Er brauchte dringend jemandem, mit dem er über die Sache eben reden konnte. Was war geschehen? Er bekam es nicht wirklich auf die Reihe: Die dicke Frau hatte vorhin behauptet, sie wäre seine Oma. Mattis hatte sich unglaublich erschreckt,und Stefan Brampeter, der die Frau mit Mutter ansprach, hatte die aufgeregte Fremde abgewimmelt. Als sie ging, hatte Mattis ihr hinterhergeschaut und überlegt, wie es wäre, wenn die Frau Recht hatte. Wenn er wirklich ihr Enkelsohn wäre. So etwas Komisches hatte er noch nie gedacht, und noch nie hatte er sich so gefühlt wie in dem Augenblick. Er hatte wirklich gedacht, er müsste sterben, auf der Stelle. Weil sein Herz so pochte und sein Magen kniff, als müsste er sich übergeben. Und er schwitzte wie bescheuert … wie krank, wie mit Fieber und Masern und allen Krankheiten zusammen, die er bislang in seinem Leben gehabt hatte. Und niemand war bei ihm gewesen. Keine Mama, keine Wencke.
Also hatte er versucht, seine Verwirrung irgendwie in den Griff zu bekommen, und hatte trotzdem weiter nachgedacht. Über die fremde Oma da in der Menschenmenge. Und irgendwann hatte der Gedanke ihm sogar kurz gefallen. Auch wenn er sich seine Großmutter nie so dick vorgestellt hatte. Aber was wäre, wenn …?
Wenn er hier in Bad Meinberg seine Familie kennen lernte? Und wenn Stefan Brampeter der Sohn dieser Frau war, so bedeutete es, dass er sein Onkel wäre. Wenn
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