Die Wacholderteufel
sich mit Verbeugungen bedankte.
Der Wacholderteufel ging über die Brücke und stellte sein rechtes Bein auf einen Felsvorsprung. Die so genannte Höhenkammer – auch Sazellum genannt, wie Frau Möller es im Unterricht erklärt hatte – sah aus wie ein Zimmer aus Stein, in dem die Decke fehlte. Mit dem viereckigen Fenster in der äußeren Wand hatte es auch irgendeine Bewandtnis, man nahm an, dass vor langer Zeit irgendwelche Mönche durch die kleine Luke die Sterne beobachtet hatten. Nun dienten diese Wände, die Ecken und Kanten, dem Wacholderteufel zum Klettern. Mit viel Kraft zog er sich am Ende des Geländers nach oben und umfasste den Stein mit dem Fensterloch. Mit vorsichtigem Schritt begab er sich auf die andere Seite der Wand, hangelte sich von außen an der Höhenkammer entlang. Mattis bewunderte ihn. Es war verdammt weit oben hier. Und der Felsen, auf dem der Wacholderteufel herumklettern wollte, war verdammt schmal.
«Habt ihr die Nebelmaschine angestellt?», fragte der Mann noch, und Mattis sah den Helfer von der Technik beruhigend nicken.
Dann ging wieder das helle Licht an. Die Trommeln setzten ein. Mattis rückte sein Mikrophon am Umhang zurecht, ein komisches Kratzgeräusch aus den Lautsprechern verriet ihm, dass sein Gerät bereits angestellt war.
Er stand auf und trat auf die Brücke. Sie war gebogen, das Geländer hatte ein schönes Muster aus Kreisen und Vierecken. Er musste sich daran festhalten. Da waren so viele Menschen.Alle schauten zu ihm hinauf. Seine Mutter sah er nicht. Und auch keine Wencke. Tief atmete er durch.
«Ich bin ein armes Teufelskind …»
31
Sie waren immer weitergegangen. Pelikan hatte ihren Arm nicht mehr festgehalten. Ihm war wohl klar, dass Wencke keinen Fluchtversuch machen würde. Schon wegen der immer noch andauernden Schmerzen hätte sie ohnehin keine Chance gehabt. Und nachdem er ihr das Chlor gezeigt hatte, war sie seinen Anweisungen gefolgt. Da brauchte sie nicht mehr so zu tun, als habe sie ihm etwas entgegenzusetzen. Sie musste alles dafür tun, dass er seinen geplanten Anschlag nicht in die Tat umsetzen konnte. Wenn sie nur wüsste, was er vorhatte.
Zum Glück hatte sie in einer unbeobachteten Sekunde die Visitenkarte des Polizisten hervorkramen können und sich die Mobilrufnummer nach und nach eingeprägt. Es war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, denn die immer stärker werdende Angst vor Pelikan ließ sie keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn eine elfstellige Zahlenkombination auswendig lernen. Alle zehn Schritte wiederholte sie im Kopf die Nummer, doch sie war sich längst nicht mehr sicher, ob sie sich nicht die falsche Nummer eingeprägt hatte.
«Bis der Wacholderteufel kommt … was meinen Sie denn damit?» Wencke hatte diese Frage bereits dreimal gestellt, und Pelikan hatte stets beharrlich geschwiegen. Da sie nicht glaubte, dieses Mal eine Antwort zu erhalten, versuchte sie eine neue Variante: «Was würden Sie mit Nina machen, wenn wir sie tatsächlich finden?»
«Ich würde sie mit nach Hause nehmen. Wo sie hingehört.»
«Und das Kind?»
«Mattis gehört auch nach Hause. Nach allem, was ich für diesen Kerl getan habe, kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass er mein Sohn ist. Und als solcher hat er bei mir zu sein.»
«Ich meinte eigentlich das Baby …»
«Sie soll es zur Adoption freigeben. Irgendwie wird Nina es sicher los. Aber eins ist klar: Ich lasse mir kein Kuckucksei unterjubeln.»
Wäre dies ein normales Gespräch, dann hätte Wencke versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Sie hätte ihm sein unmögliches Verhalten vor Augen geführt und zu bedenken gegeben, dass es vielleicht besser wäre, sich zu trennen und einen Neuanfang zu wagen. Doch dies war kein normales Gespräch.
Eine Weile war es still, und es gelang Wencke, neue Gedanken zu finden. Es lag auf der Hand: Nina Pelikan hatte die Kur genutzt, um sich von ihrem tyrannischen Ehemann zu trennen. Sie hatte sicher keinen anderen Ausweg gewusst, insbesondere, weil sie tatsächlich von einem anderen schwanger zu sein schien. Was auch immer in dieser Familie vorgefallen war, es musste schlimm genug sein, dass Nina keine Möglichkeit gesehen hatte, woanders Hilfe zu suchen. Es gab Frauenhäuser, es gab geschulte Polizeikollegen, es gab Seelsorger jeder Art, die sich mit häuslicher Gewalt auskannten und Nina geholfen hätten. Doch diese Alternativen mussten für sie trotzdem undenkbar gewesen sein. Vielleicht lag es daran, dass Pelikan zwei
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