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Die Wacholderteufel

Die Wacholderteufel

Titel: Die Wacholderteufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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sich und schob sie grobdurch den Spalt nach draußen. Die Luft im Zimmer war ohnehin schon sehr kalt gewesen, doch der Winterwind schnitt Wencke eisig ins Gesicht. Pelikan trat ebenfalls hinaus und presste sie gegen das Geländer, die brüchige Steinkante quetschte schmerzhaft Wenckes empfindliche Brust ein. Ihr Bauch schien zu zerreißen, denn er drückte mit aller Kraft ihren Unterleib gegen den Beton. Das Kind, dachte Wencke erneut.
    «Ich habe kein Problem damit, dich hinüberzuwerfen», sagte er in einem aufgesetzt harmlosen Tonfall, als wolle er lediglich Armdrücken üben. Sie spürte seine Hand zwischen den Beinen. Es war keine anzügliche Berührung, das wusste sie, er wollte sie dort packen, um sie in die Höhe zu heben, um sie nach vorn zu schleudern, um sie zu töten.
    Noch hatte sie keinen Blick nach unten geschickt. Es reichte ihr, dass sie in der Ferne den Bad Meinberger Kirchturm sehen konnte, die Bäume des Kurparks, die Landstraße, die zur Stadt hinausführte. All das machte ihr klar, dass sie, wenn sie hinunterschaute, gelähmt vor Angst sein würde.
    Ihre Hände krallten sich um die Reste der verrotteten Eisenbrüstung, nichts würde ihr hier Halt geben, wenn er sie stieß.
    «Du starke Wencke Tydmers», lachte Pelikan hölzern. «Wehr dich doch! Zeig mir, welche Kraft eine Frau wie du aufbringen kann. Beweise mir, dass ich falsch liege, wenn ich sage: Ihr braucht mich doch! Ihr Frauen!»
    Sie verlor den Boden unter den Füßen, denn seine Hand hob sie Stück für Stück aufwärts. Nun erfassten ihre Augen doch das ganz weit Unten. Sie würde lange fallen. Sie hätte noch ein paar Sekunden, in denen ihr bewusst sein würde, dass ihr Körper gleich dort auf der ungepflegten Pflasterung auftraf, direkt zwischen einer rostigen Gartenschaukel und den Überresten eines Fahrradständers. Genau dort würde sie landen. Wencke merkte erst jetzt, dass sie bereits begonnen hatte zu schreien.
    Er hatte sie schon bestimmt einen Meter in die Höhe gehoben, das Strampeln ihrer Beine ließ ihn kalt. Sie stemmte sich gegen das graue Geländer, wollte ihn abstoßen, auch wenn sie mit ihm nach hinten fallen würde. Doch er trat gegen ihre Kniekehlen, knickte die Beine ein, sodass ihre Sohlen über den rauen Putz nach oben rutschten. Er trat ein weiteres Mal zu, und ihre Knöchel lagen fast auf dem Sims, während er ihren Oberkörper fest umklammert hielt und die Arme bewegungsunfähig machte. Nur ein kurzer Stoß, dachte Wencke, es war nicht mehr als ein Schubs, und den Griff lösen, dann   …
    Er ließ sie los. Seine unbändige Kraft, die sie im Schritt und im Würgegriff zu spüren bekommen hatte, versiegte innerhalb eines flüchtigen Augenblicks, nicht lang genug, als dass Wencke sich hätte festhalten oder wenigstens abstützen können. Sie rutschte aus seinen Armen heraus, glitt rückwärts an seinen Beinen hinunter. Erst dachte sie: Es ist so weit, ich falle, ich sterbe, doch dann bemerkte sie, dass sie in die andere Richtung sackte, dass sie hart auf dem feuchten Boden des Balkons auftraf, erst mit dem Steißbein, dann mit dem Rücken. Die Jacke und der rote Pullover waren nach oben gerutscht, kleine Steine punktierten ihre Haut. Ihre Hände hingen noch in der Luft, als kämen sie nicht schnell genug hinterher. Was war geschehen?
    Sie spürte etwas Hartes zwischen den Schulterblättern. Sie war auf etwas gelandet, es drückte sich schmerzhaft gegen die Wirbelsäule. Schwerfällig wandte sie sich um, sortierte ihre Gliedmaßen und versuchte, nach diesem Ding zu fassen. Ihre Hände, taub von der Kälte und dem Kampf, den sie vor wenigen Sekunden noch verloren geglaubt hatte, ertasteten nach und nach das Harte und Glatte und Längliche unter ihr. Es war ein Schuh. Wencke drehte sich um. Es war Pelikans Schuh, sein gestrecktes Bein endete seltsam verdreht im Körper, der regungslos über der Schwelle der Balkontür lag. Wencke richtete sich halbwegs auf. Am Ende des Rumpfes hing der Kopf zur Seite.Pelikans Stirn war nass und rot, seine Augen geschlossen, sonst wäre das Blut hineingelaufen. Ob er atmete, konnte Wencke aus ihrer Position nicht ausmachen. Sie starrte auf die Wunde. Noch sickerte es, noch schob also irgendwo ein lebendiger Puls das Blut des Mannes aus dem Loch im Kopf heraus.
    Wencke konnte den Blick nicht lösen. Erst als dieses Ding, dieses rostige Etwas hinter Pelikans blutigem Scheitel zu Boden fiel, kam wieder Bewegung in Wencke. Es war das Heizungsrohr, am einen Ende klebten noch die Haare,

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