Die Wacholderteufel
angeschaut. «In dem Moment, als ich in seinem Auto saß und im Rückspiegel entdeckte, dass er sich sturzbetrunken genau hinter mich auf die Pflastersteine gesetzt hatte, sah ich meine einzige Chance, unser gemeinsames Leben zu beenden, bevor es richtig begonnen hatte. Ich habe den Rückwärtsgang eingelegt und das Gaspedal durchgedrückt. Hinterher habe ich behauptet, ich hätte es mit der Bremse verwechselt. Als ich aus dem Auto stieg, habe ich die Hand auf meinen Bauch gelegt und meinem Baby versprochen: Jetzt wird alles gut!» Sie hatte dieselbe Geste gemacht, von der sie eben erzählt hatte.
«Und?», hatte Stefan nach einiger Zeit gefragt. «Ist denn alles gut geworden?»
Sie hatte den Kopf geschüttelt und dabei sehr traurig ausgesehen. Dann hatte sie ihm gute Nacht gewünscht und war Richtung Feuerleiter gegangen.
Das Bedürfnis, sich zu erleichtern, hatte Stefan erneut überkommen. Erst hatte er sich in die Büsche setzen und irgendwo im
Silvaticum -Park
hinter einen der exotischen Bäume machen wollen. Dann war ihm jedoch eine Idee gekommen, die ihn hatte losrennen lassen, trotz Druck im Darm, trotz Alkohol im Blut. Er war gelaufen und über Blumenbeete gestolpert, bis er zum Friedhof gelangt war. Das gepflegte Grab am Ende der Reihe hatte ihn wütend gemacht, die säuberlichen Büsche und Blumen, die er beim Baumarkt gekauft und auf Ulrichs Grab gesetzt hatte, er hatte sie herausgerissen und sie durch die Luft geschleudert. Irgendetwas hatte er dabei geschrien, es waren Verwünschungen gewesen, die er schon längst hätte aussprechen sollen. Gegen den toten Bruder, der sein Leben sobestimmt hatte und sich nun als widerlicher Vergewaltiger und Menschenverächter entpuppt hatte. Ulrich, das Vorbild mit den schnellen Autos und dem guten Job auf dem Rathaus. Pah, er war es niemals wert gewesen, dass man sich wegen ihm so gequält hatte. Wäre Stefan nur eher dahinter gekommen, dass an dem Tag auf dem Parkplatz in Detmold nur das Leben eines Kotzbrockens ausgelöscht worden war, hätte er alles anders gemacht. Er wäre ein anderer Mensch geworden. Vielleicht ein fröhlicherer Mensch. Auf keinen Fall so ein armes Schwein, das sich in einer der letzten Herbstnächte betrunken auf das Grab seines Bruders hockte und endlich den ganzen Scheiß herausließ.
36
Wencke saß neben dem Mann am Boden und fasste mit zitternden Fingern in die Innentasche ihrer Jacke. Sie hatte Angst, seine Hand könnte plötzlich nach oben schnellen und sich um die ihre legen. Doch während sie nach dem Mobiltelefon suchte, blieb der große Mann unbeweglich liegen. Trotz des Schocks war es Wencke gelungen, die Wunde am Kopf notdürftig zu versorgen, steril war der Verband, der aus ihrer Jeansjacke bestand, sicher nicht, aber er hielt immerhin das Blut auf. Nina saß in ihrem verdreckten Schlafanzug neben dem Koloss und hielt ihre Finger an seinem Puls, der noch immer – wenn auch schwach – zu fühlen war. Endlich holte Wencke das Handy heraus, sie drückte die Wahlwiederholung und lauschte mit angehaltenem Atem, ob sich der Bad Meinberger Dorfsheriff bald meldete und was er zu erzählen hatte. Doch nach sieben Freizeichen wurde noch immer nicht abgenommen, also drückteWencke die Verbindung weg und wählte stattdessen den Notruf. Beinahe sofort meldete sich eine Frauenstimme.
«Wencke Tydmers hier, wir sind in der verlassenen Lippe-Klinik, im vierten Stock. Ein schwer verletzter Mann mit Kopfverletzung, Puls schwach, aber stabil. Und … und zwei schwangere Frauen, die eine mit Unterkühlung, die andere mit Verdacht auf vorzeitige Wehen … Können Sie schnell kommen?»
Die Frau der Notrufzentrale bejahte, und Wencke gab ihr noch eine halbwegs präzise Auskunft, wo genau sie sich in dem riesigen Betonklotz befanden. «Es muss irgendwo rechts der Haupttreppe sein.» Mehr ging nicht, mehr wusste sie nach der endlosen Suche an Pelikans Seite nicht mehr. Außerdem ließen die Schmerzen im Unterleib ihr kaum noch die Kraft, halbwegs vernünftige Sätze auf die Reihe zu kriegen. Doch eine Sache, die wollte sie unbedingt noch in Erfahrung bringen, auch wenn sie danach vollends zusammenbrechen würde: «Gab es an den Externsteinen einen tödlichen Unfall …?»
Die Frau sagte, sie könne und dürfe auf solche Fragen grundsätzlich keine Antworten geben.
«Ich bin Polizistin, ich stehe in Kontakt zu Norbert Paulessen, der dort die Einsatzleitung hat, aber leider derzeit nicht zu erreichen ist. Bitte, sagen Sie mir nur: Gab es
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