Die Wacholderteufel
nachgedacht. Schließlich war mir, als ich die Zeitung fand, gerade erst bewusst geworden, dass Hartmut mich aufgestöbert hat. Dass meine Flucht missglückt ist. Ich war verzweifelt …»
«… und hast darüber nachgedacht, dich mit einem Sprung von den Externsteinen aus der Affäre zu ziehen?» Der Satz sollte sich eigentlich nicht so vorwurfsvoll anhören. Es tat WenckeLeid, in dem Moment, als sie ihn ausgesprochen hatte. Sie konnte sich schließlich nicht wirklich vorstellen, welche Ängste Nina durchgemacht haben mochte.
Nina sah sie jedoch weiterhin voller Vertrauen an. «Ich wäre nie gesprungen. Wegen Mattis nicht und auch wegen dem hier.» Nina streichelte wieder über den Bauch, und es war das erste Mal, dass Wencke diese Geste irgendwie nachvollziehen konnte. «Vielleicht habe ich den Zettel als Abschreckung mit mir herumgetragen, keine Ahnung. Es tut mir Leid, dass ich dir eine solche Story aufgetischt habe, aber irgendwie wollte ich wohl mit meiner Angst nicht so allein sein. Sie zumindest einmal aussprechen. Und da habe ich eben ganz spontan behauptet, mir sei das Papier zugesteckt worden.»
«Ach, Nina», sagte Wencke. «Du musst mir nichts erklären, ich bin es, die sich entschuldigen muss …»
«Warum?»
«Ich habe dich nicht ernst genommen. Deine Geschichte von den Teufeln unterm Balkon, deine Panik wegen des Artikels … wenn ich ehrlich bin: Ich habe dich lange Zeit für eine überdrehte Hysterikerin gehalten.»
«Mach dir doch keine Vorwürfe. Du bist die Letzte, die etwas dafür kann, was passiert ist.»
«Nina, lass uns einfach …», widersprach Wencke schwach.
«Doch! Niemals hatte ich die Kraft, für mich selbst einzustehen. Ich habe mich doch nie gewehrt. Damals war es genauso: Nur mit einem Kind im Bauch habe ich den Mut, mich meinem Leben zu stellen.»
«Ich kann dich verstehen. Mir geht es nicht anders.»
«Aber du hast noch nie jemanden getötet. Und ich bin heute zum zweiten Mal zur Mörderin geworden. Eine Mörderin, Wencke!»
Wencke setzte sich wieder auf. Ihr wurde sofort schwindelig. «Dieses Mal ist es aber anders. Hartmut ist nicht …»
«Doch», unterbrach Nina und ließ das Handgelenk ihres Mannes los. «Seit ein paar Minuten fühle ich keinen Puls mehr …»
Sie zitterte leicht, schien aber trotzdem in sich zu ruhen. Draußen hörte man aus der Ferne die schrillen Töne von Martinshörnern. Mehrere Krankenwagen waren gleichzeitig auf dem Weg. Wencke war erschöpft. Sie legte ihren Kopf auf den Arm und schloss die Augen.
37
Norbert Paulessen ließ am Vormittag des Heiligen Abends das Fahrrad stehen und nahm ausnahmsweise mal den Dienstwagen. Das hatte damit zu tun, dass er insgesamt zwei große Blumensträuße, zwei Tüten Gummibären und eine Flasche hochwertigen Multivitaminsaft zu transportieren hatte. Und zwar bis zum Klinikum Lippe-Detmold, bei Glatteis und Schneeregen. Eigentlich ging es ihm dabei nur um eine Patientin, die er besuchen wollte, doch er konnte schlecht an Nina und Mattis Pelikan, an der kleinen Joy-Michelle und Ilja Vilhelm vorbeispazieren, ohne sie nicht auch mit einem kleinen Mitbringsel am Krankenbett zu erfreuen. Die Kinder waren zum Glück so weit wieder gesund. Ihre Lungen hatten durch das Chlorgas zwar etwas Schaden genommen, doch der Oberarzt hatte davon gesprochen, sie zu Weihnachten nach Hause, oder besser zurück in die
Sazellum -Klinik
zu schicken. Die beiden schienen aber keineswegs traurig zu sein, sich ein Zimmer teilen zu müssen. Als Paulessen ihnen die Fruchtgummis brachte, war Mattis gerade damit beschäftigt, langsam und schüchtern unter die Bettdecke des Mädchens zu kriechen, die Augen dabeiauf einen Gameboy geheftet. Auch seine Mutter Nina Pelikan hatte sich so weit erholt. Trotz ihrer mageren Erscheinung war diese Frau stark, sie hatte die lange Zeit in der verfallenen Lippe-Klinik, die Kälte und die Strapazen gut weggesteckt. Leider erwarteten sie nach der Entlassung einige unangenehme Besuche der Detmolder Kripo, die sich mit dem toten Hartmut Pelikan beschäftigen mussten. Doch nichts sprach bislang dagegen, dass die ehemalige Janina Grottenhauer in Notwehr gehandelt und mit ihrem beherzten Einsatz sogar das Leben der Kommissarin gerettet hatte.
Am schlechtesten ging es Ilja Vilhelm, dem Wacholderteufel. Er ließ sich jedoch die Schmerzen der zahlreichen Knochenbrüche nicht anmerken und versuchte, das von der Lungenverletzung rührende Husten zu unterdrücken, als Paulessen mit der
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